Zwei neue Texte, vorgestellt am 27.4. bei der zweiten Ausgabe von „Tati liest underground“ in der Metzer Straße.

Die Verwandlung (eine Coverversion)

1
Als Schwarz eines Morgens aus den unruhigen Träumen eines wenig tiefen Schlafs erwachte, fand er sich ein weiteres Mal weder in einen Käfer noch irgendetwas sonst verwandelt. Stattdessen bemerkte er direkt mit dem ersten Augenöffnen, dass er immer noch wahnsinnig er selbst war: ein weißer europäischer Mann Ende vierzig, deutsch dazu.

Womit hatte Schwarz das verdient? Das Zimmer um ihn war ein richtiges, nur etwas zu kleines Mittelklasse-Wohnzimmer. Gegenüber des Schlafsofas, auf dem er lag, befand sich die Stereoanlage mit ihren großen Boxen. Nach links hin stand der Schreibtisch. Der Bildschirm des Rechners war in Standby-Dunkel versunken, das Wetter vor dem Fenster trüb. Regentropfen schlugen an die Scheibe und unterstützten seine melancholische Stimmung. Denn eins war klar: Niemand interessierte sich für seine Erfahrungen oder Geschichten. Und das zurecht. Schließlich war Schwarz schon durch Geburt, vollständig aber durch Erreichen des Mannesalters, eines jener großen, ekligen Gliedtiere geworden, deren Bestimmung allein darin zu bestehen schien, anderes Gekreuch herumzuschubsen und zu tyrannisieren.

Wie wäre es, wenn er noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße?, fragte sich Schwarz. Aber da klopfte es bereits an die Zimmertür, die er, als befände er sich in der Fremde, verschlossen hatte.

Am vorherigen Abend hatte er sie nach einem wenig fruchtbaren Streit mit Eva, seiner Frau und Agentin, über ihre anhaltend schwierige Finanzsituation hinter sich zugeschmissen und abgesperrt. Da hatte er nichts sehnlicher gewollt als seine Ruhe. Und auch jetzt fühlte er sich ausgelaugt, sogar krank; er spürte deutlich, dass er sich seit Jahren krumm legte, für die falsche Sache arbeitete und belanglosen Mist schrieb, zu dem er nicht stehen konnte; dass er sich verkaufte, um ihr gemeinsames Überleben zu sichern: die Miete für die Räume im Trendbezirk, das Bio-Essen und die Auszeiten, die sie brauchten, um nicht in Resignation abzustumpfen.

Das Klopfen, das sacht begonnen hatte, steigerte sich. Wahrscheinlich fand Eva, dass die Ruhe, die sie Schwarz bis hier gegönnt hatte, nun lang genug gedauert habe. Doch als sie nach ihm rief, gelang es ihr, viel sanfte Anteilnahme in ihre Stimme zu legen, so dass er den innigen Wunsch verspürte, ihr zu öffnen und sich für seine Schroffheit des letzten Abends zu entschuldigen.

Allein, als er versuchte aufzustehen, stellte Schwarz fest, dass er dermaßen zerstört war, dass er kaum Kopf oder Arme heben, geschweige denn sich zur Gänze aufsetzen konnte. Mit einer Stimme, die in ihrer Schwäche seinem geschulten Organ so gar nicht ähnlich schien, hauchte Schwarz, er würde gleich zur Stelle sein, bräuchte nur noch wenige Minuten.

Nach einem kurzen, vielleicht erschrockenen Schweigen, räusperte sich Eva und sagte durch die Tür, am Telefon sei ein Herr vom Verlag für ihn, der mit Schwarz einen Plan der Werbeagentur zu seiner Neupositionierung durchgehen wolle. Schwarz nickte, war aber nicht in der Lage, eine vernehmliche Antwort zu artikulieren.

Hinter geschlossenen Lidern ließ er die letzten Anstrengungen einer Neueinordnung seines Schaffens vor seinem inneren Auge Revue passieren. Als nymphomane Feministin hatte er einen Romanzyklus entwerfen sollen; als barfüßiger nigerianischer Baptist einen Lebensbericht. Um sich kooperativ zu zeigen, hatte Schwarz selbst immerhin einmal vorgeschlagen, sich in einen tamilischen Selbstmordattentäter der LTTE hineinzuversetzen. Dafür wurde jedoch kein Markt gesehen. Eva hatte seine Ablehnungen zwar meist mit einem Augenrollen quittiert, sie als Agentin aber jedes Mal in seinem Sinn an den Verlag weitergegeben und durchgesetzt. Auch wenn sie in einigen Punkten unterschiedlicher Auffassung waren, zogen sie doch im Wesentlichen an einem Strang. Diese Feststellung durchflutete Schwarz jetzt als zärtliches Gefühl, und gern hätte er die sie trennende Tür geöffnet, damit sie einander näher hätten sein können. Doch daran war in seinem Zustand nicht zu denken. Ohne anders zu können, dämmerte er wieder weg.

2
Später – nach Stunden oder Tagen – folgerte Schwarz aus angeregt sich unterhaltenden Stimmen im Nebenzimmer, dass eine kleine Party für die Verlags- und Literaturszene der Stadt gegeben werde. Das hatten Eva und er auch in der Vergangenheit des Öfteren getan; damals allerdings zumeist auf seinen ausdrücklichen Wunsch oder zumindest nach genauer Absprache. Dass Eva diesmal eigenmächtig entschieden hatte, durch eine Festivität ihre Stellung im Betrieb zu festigen oder wenigstens – was unter den gegebenen Umständen schwer genug schien – aufrecht zu erhalten, war Schwarz nachvollziehbar. Wenn er sich durch den Sound der Unterhaltungen auf ihre Stimme konzentrierte, vernahm er stets eine Verteidigung seiner Integrität. Glaubhaft versicherte Eva allen, die es hören wollten, dass Schwarz ganz sicher bald wieder auf der Höhe sein und – was noch wichtiger schien – nach einer gründlichen Metamorphose, die aktuell noch seine gesamte Kraft und Aufmerksamkeit in Anspruch nehme, als ganz anderer erscheinen werde. Als neue Version seiner selbst. Nein, nicht einmal seiner selbst. Als völlig neue Version dessen, was Verlage und Leserschaft begehrten.

Einerseits rührten Schwarz ihr Engagement und Einsatz zu seinem und ihrem gemeinsamen Vorteil. Andererseits lag er da, ohne sich rühren zu können, war schwächer denn je und dabei so sehr er selbst, wie er es sich unter gänzlich anderen Bedingungen nur hätte wünschen können.

3
Die Party nebenan endete weder am nächsten Tag noch irgendwann sonst. Schwarz hörte, wenn er nicht schlief, in seinem Zustand des Dahindämmerns dem beständigen Kommen und Gehen, Reden, Lachen und Korkenknallen zu und stellte sich zu Musik und Gepolter die stattfindenden Tänze und Exzesse vor. Dennoch – bei aller Ausschweifung und Geschäftsanbahnung dachte man an ihn. Auch nach Tagen klopfte Eva, mal nüchtern, mal leicht beschwipst, zuverlässig an seine Zimmertür; rief ihn mit Sorge in der Stimme, um zu erfahren, ob sich sein Zustand verändert habe, und berichtete ihm von ihren Plänen, Unternehmungen und Hoffnungen.

Halb im Delirium hörte Schwarz sie einmal mit großer Andacht eins seiner frühen unveröffentlichten Gedichte deklamieren und freute sich am Applaus, den sie dafür erhielt. Wenig später gestand sie ihm, sie habe es dem Verlag gegenüber als ihre Schöpfung ausgeben müssen und einen guten Preis dafür erzielt. Ähnlich werde sie auch mit seinen anderen Schriften verfahren. Das wärmte sein Herz, und während Literatur und Markt nebenan sprossen und gediehen, faltete Schwarz die Hände über der Bettdecke, schloss die Augen und erwartete leicht und leichter werdend sein seliges Hinschwinden, das nicht lang auf sich warten ließ.

Sicher hätte ihn Eva als nun immerhin toten weißen europäischen Mann deutlich besser verkaufen können als zuvor. Da sie ihre gesamte Zeit allerdings für ihre eigene Kreativität benötigte, der Schwarz, wie es schien, zu Lebzeiten immer im Weg gewesen war, kam sie gar nicht mehr dazu, nebenher auch noch sein Vermächtnis zu verwalten. Als gefragte Autorin und Mittelpunkt der literarischen Gesellschaft hatte sie genug mit ihrem Werk zu tun und musste Präsenz zeigen.

Schwarz dagegen brauchte sich nur mehr zu zersetzen, was er mit großem Einverständnis tat.

Schwarz im Dunkeln

Ein Reiseerlebnis

War Schwarz tot? Um ihn war nichts als Dunkelheit. Sie hielt ihn umklammert und durchflutete ihn. Lichtlosigkeit hatte die Grenzen zwischen Körper und Raum eingeebnet. Verschwunden waren Innen und Außen, Kosmos und Selbst. Schwarz hatte die Welt aus den Augen verloren, ohne dass er wusste, wie. Alles schien ihm abhanden gekommen. Außer Schwärze, die ihn umgab, war da nichts. Finsternis bedeckte die Erde. Oder schlimmer noch: Sie schien sie ausgelöscht zu haben.

Schlief er? War er bei Bewusstsein?

Womöglich war er geschlafwandelt – was vorkam – und nun irgendwo im Nichts erwacht. Gab es das? Das Nichts als Ort? Konnte es passieren, dass man aus der Welt fiel in der Nacht? Denn dass Nacht war, schien naheliegend, wenn es auch das Ausmaß der Dunkelheit kaum erklären konnte. Davon, dass man im Traum in einen andere, unbekannte Dimension stolperte, um dann in ihr zu erwachen, hatte Schwarz allerdings nie gehört.

Aber Schwarz träumte nicht.

Er sagte sich, dass er existierte und wach war. Ich denke, also bin ich, also bin ich wach. Das war eine Behauptung, die sich kaum beweisen, aber ohne weitere a priori glauben ließ. Irgendwo musste er ja anfangen. Hätte er sich das im Dunkeln getraut, hätte er über den Vulgär-Cartesianismus seines Gedankens gelacht. Oder wenigstens gekichert.

Dass er jedoch tatsächlich nicht die Hand vor Augen sehen konnte, machte ihn beklommen. Für Gelächter schien in der Dunkelheit kein Platz. Nirgends im Schwarz um Schwarz war ein Riss zu ahnen. Nicht der kleinste Lichteinbruch. Keine Schattierung. Keine Schemen. Sollte er rufen? Gegen die Stille hatte er Angst, die Stimme zu erheben. Dabei wäre es interessant gewesen zu hören, ob er etwas hörte.

Leicht kläglich räusperte er sich also nach einigem Bedenken. Okay. Das konnte man eine Art Geräusch nennen, wenn auch von niederer Intensität. Immerhin, die Stille war nicht festgefügt, konnte von ihm durchbrochen werden. Aber vielleicht sollte er besser nicht zu viel in dieser Richtung versuchen. Solang er nichts sah und wenig vermochte, war es womöglich besser, nicht die Aufmerksamkeit möglicher anderer auf sich zu ziehen.

Wenn man nichts sah, stellten sich viele Fragen, dachte Schwarz. Wo war er? In welchen Waldes Dunkel hatte er sich verirrt? Wie und wann war er vom Weg abgekommen? Warum? Oder pragmatischer: Was konnte er tun? Mit dem vollständigen Verschwinden des Lichts aus seiner Welt war, wie es schien, auch ein Großteil seiner aktuellen Erinnerung verschwunden. Ob Drogen im Spiel waren oder Alkohol? Möglich. Auch die Zeit ließ sich kaum schätzen. Wie lang hielt sein augenblicklicher Zustand bereits an? Befand er sich in einem geschlossenen Raum? War er gar eingesperrt?

Immerhin schien er zu stehen. Ja, das waren wohl seine Füße, die er diffus ein Stück entfernt, wahrscheinlich unter sich, wahrnahm. Doch: Zehen, Ballen, Ferse. Das gab es. Schien alles da zu sein.

Schwarz erinnerte sich, dass er auch Hände hatte, mit denen er die Welt bearbeiten konnte. Streicheln oder schlagen. Gemüse akkurat schneiden oder Gitarre spielen. Solche Sachen. Zur Probe wollte er sich die Wange tätscheln und traf – fester als gedacht – die Nase. Das sollte er lassen. Aber gut. Er schlief nicht. Er stand im Dunklen.

Wer stand, sagte sich Schwarz, sollte gehen können. Außer Armen und Händen verfügte er, wie anzunehmen war, über Beine und konnte voraussichtlich auch die bewegen. Vorsichtig und wackelig schob er einen Fuß voran und tastete mit den Händen in dieselbe Richtung. Da war nichts als Leere. Kein Halt. Keine Orientierung. Selbst wenn er das erwartet hatte, verunsicherte es ihn. Dabei tat ihm die Leere nichts. Schlimmer wäre gewesen, in etwas ekliges oder scharfkantiges zu greifen oder daran zu stoßen. Dennoch schien es schwierig, sich in der Dunkelheit zu bewegen. Fast unmöglich, die Angst zu überwinden und sich für eine Richtung zu entscheiden. Das Gleichgewicht zu halten. Nicht zu fallen.

Oder bedurfte es zur Stabilisierung nur größerer Geschwindigkeit? Was bedeutete Bewegung, wenn es keinen Referenzpunkt gab? Das konnte er nicht sagen. Dennoch: Wenn er beschleunigte, sollten seine Bemühungen sicherer werden. Musste er denn erst einen Begriff vom Fliegen haben, bevor der Tanz losgehen konnte? Konnte ja auch sein, dass die Dunkelheit neue Chancen für ihn bereithielt. Wie die Schwerelosigkeit. Musste ja nicht immer alles schlechter werden, nur weil sich ein Faktor veränderte.

Also bewegte sich Schwarz. Vorsichtig zunächst, wurde er bald mutiger; machte größere und größere kleine Schritte. Drehte sich sogar verhalten; streckte die Arme in eine Richtung und versuchte, mit dem Körper zu folgen. Warf schließlich ein ausgestrecktes Bein nach vorn wie ein Tänzer, wagte einen beinahe mutigen Sprung – und erschrak über die Heftigkeit des Pochens, das sich mit einem Mal spitz und metallisch in der Mitte seiner Wahrnehmung einstellte und von dort aus ausbreitete. Schwarz ging in die Knie und schlug mit der Seite auf den Boden. Fand eine irgendwie stabile, wenn auch nicht bequeme Lage und wartete, dass der unmittelbarste Schmerz abklang. Nun hätte er doch gern geschrien, wagte aber weiterhin nur ein geknurrtes Jaulen, das anhielt.

Ihm schien, ein Hund schnüffele feucht an seiner Stirn, oder Schaben liefen über sein Gesicht. Mit den Fingern dirigierte er sie vom Haaransatz in Richtung Mund und schmeckte Eisen. Das war Blut. Schwarz bemühte sich, ruhig zu atmen. Versuchte mit den Händen, die Wunde geschlossen zu halten. Auch die schlimmste Pein würde nach einiger Zeit nachlassen. Das glaubte er zu wissen. Allerdings vielleicht nicht, wenn man im Finsteren auf nichts sonst zurückgeworfen war.

Als er unter Qualen ins Dunkel starrte, ohne zu wissen, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, bemerkte er zum ersten Mal, dass es darin doch etwas gab. Er sah Sterne, die heller wurden, zu pulsieren begannen und Bilder formten. Jetzt zum Beispiel einen riesigen zotteligen Wolf mit großen Fangzähnen, den Schwarz aber gleich als Archetypen lang überwundener Kindheitsängste durchschaute. Solchermaßen erkannt und entkräftet transformierte der Wolf sich erst in einen, dann in mehrere bewaffnete Freischärler, formte ein Erschießungskommando, das Schwarz abholen sollte. Aber auch das machte ihm heut keine Angst. Stattdessen stellte sich, allem Schmerz zum Trotz, mit einem Mal das Gefühl ein, er könne in seiner Lage ganz gut dem eigenen Geist beim Assoziieren und Denken zusehen; ungefähr so als befände er sich im Kopf von Rainald Goetz oder an einem ähnlich dafür privilegierten Ort. Vielleicht würde die Vorstellung in der Finsternis gleich vom Drohen zum Locken übergehen und sein Unterbewusstes ihm endlich angenehm sündigere Bilder darbieten.

Doch gerade, als er der Situation endlich etwas abzugewinnen begann, wischte grelles Licht sie schlagartig beiseite.

Mei, wie schaust denn du aus?, fragte die Suse, die in Filzschuhen und ihrem Hüttenanzug über ihm stand.

Unter Vorhaltungen dirigierte sie ihn ins Bad, verband seinen Kopf und ermahnte ihn, wenn er nachts noch einmal hinaus müsse, Licht zu machen. Besser noch sei es allerdings, immer eine Taschenlampe griffbereit neben dem Bett stehen zu haben. Wie er bemerkt haben werde, sei mit der Dunkelheit in der gegen die Witterung verbarrikadierten Berghütte nicht zu spaßen. Im Gegenteil habe die schon ganz andere Mannsbilder in den Wahnsinn getrieben.