Ein Elvis-Imitator, singende Nerds in Buchstabenpullovern und eine Gruppe von „Bobby-Sox“-Tänzern wie aus den Anfangstagen der amerikanischen Popkultur eröffnen Eliza Hittmans „Niemals Selten Manchmal Immer“. Sie sind Teil eines High-School Talentwettbewerbs, dessen Rückbesinnung auf eine anheimelndere Vergangenheit durch den Auftritt von Autumn Callahan (Sidney Flanigan) in Jeans und pinkfarbener Bomberjacke beendet wird. Zwar gibt auch sie mit „He’s Got the Power“ den Hit einer Girlsband aus den Sechzigern zum Besten. Doch handelt der von sexueller Hörigkeit, und Autumns Version, bei der sie ihre Stimme allein durch sparsames Akustikgitarrenspiel begleitet, leitet aus der Nostalgie des Nachmittags in die entschieden härtere Realität des Hier und Jetzt über.

Schwanger in der amerikanischen Provinz

Deutlich zeigt denn auch die von einem Mitschüler in ihren Vortrag hineingerufene Beleidigung „Schlampe!“, wie wenig Sympathien weibliche Selbstermächtigungsversuche im vorherrschend repressiven gesellschaftlichen Klima der postindustriellen Provinz Pennsylvanias zu erwarten haben. Doch nach kurzem Erschrecken besinnt sich Autumn auf ihr trotziges Understatement und singt weiter. Dass die so markierten Grenzen nicht bloß irgendwo im abstrakten Feld des Kulturellen verlaufen, sondern mitten durch den engsten Kreis der Familie schneiden, zeigt sich beim anschließenden Essen im Restaurant. Hier muss Autumn die wenig empathischen Reaktionen ihres Vaters auf ihre – wie er es sieht – wenig nachvollziehbaren Zustände über sich ergehen lassen. Traurigkeit oder Unwohlsein empfiehlt er seiner Tochter durch eine Untersuchung des Hirns aus der Welt schaffen zu lassen.

Die aktuellen Ursachen ihrer anhaltenden Niedergeschlagenheit sind körperlich jedoch an anderer Stelle zu suchen. Denn wie sich bald herausstellt, ist Autumn ungewollt schwanger. Von dieser medizinisch-biografischen Tatsache ausgehend entwickelt Hittman, die neben der Regie auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, die Geschichte vom Versuch ihrer siebzehnjährigen Protagonistin, eine Abtreibung vornehmen zu lassen und so die Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben zurückzuerlangen. Das macht sie praktisch ohne jede dramatische Überhöhung; stattdessen beobachtet der Film die eher banalen Tatsachen des Alltags, mit denen Autumn und ihre Cousine und Vertraute Skyler (Talia Ryder) auf ihrem Weg konfrontiert sind. Seine große emotionale Tiefe entsteht in erster Linie in den Reaktionen auf das Geschehen in den Gesichtern der Mädchen.

Praktikum im Eingangsbereich der Metropole

Als ein Blick ins Internet zeigt, dass das in Pennsylvania Schwangerschaftsbbrüche für eine Minderjährige ohne Zustimmung der Eltern nicht möglich sind, beschließen Autumn und Skyler nach New York zu fahren. Ihre Odyssee, die sie praktisch bar aller finanziellen Mittel antreten, beschert ihnen, während sich die Landschaft der Provinz im Hintergrund gegen die Skyline der Metropole austauscht, ein Praktikum im Fach „Leben als Erwachsene“. Darüber, dass es ihnen die Augen für einige grundlegende Zusammenhänge zwischen Geld, Macht und Begehren öffnet, müssen die Mädchen kaum ein Wort verlieren. Hittman verlässt sich auf ihr Einvernehmen, das seinen Ausdruck immer wieder im Körperlichen findet: in kraftzehrenden Verrenkungen beim Mitschleppen eines viel zu großen und schweren Koffers, dessen Bedeutung außer als Hindernis nie ganz klar wird; im Fliehen vor der Begehrlichkeit übergriffiger Männer; im Hand-Halten, während zur Finanzierung des nächsten Fast-Food-Menus mit einem anhänglichen Hipster geknutscht werden muss.

Von der Metropole als dem sprichwörtlichen Zentrum der Welt sind ausschließlich die etwas schäbigen Eingangsbereiche zu sehen. Ähnlich wie im europäischen Kino der Dardenne-Brüder nimmt die Kamera dagegen sehr genau Notiz von den aktuellen Stolpersteinen auf den Weg der Mädchen; etwa von mehr oder weniger gut versteckten Belästigungen am Arbeitsplatz an der Supermarktkasse oder in der U-Bahn.

Wiederkehrende Bildmotive sind Warteräume aller Art, Transportmittel, die Displays von Ticketautomaten oder andere Bildschirme, vom eigenen PC bis zu den diagnostischen Bildgebungsinstrumenten der medizinischen Versorgung. Was Hittman interessiert, ist die präzise Beobachtung der Momente, in denen die Reibung an den kleinen versteckten Widerständigkeiten des Alltäglichen ihren Ausdruck findet.

Freundinnen müsste man sein

Und immer wieder spiegelt sich in den Zügen der Hauptdarstellerinnen, die hier beide bravourös ihr Filmdebut abliefern, welcher Anstrengungen es bedarf, die Beherrschung zu bewahren, auch wenn alles dagegenspricht. Allein über die Überraschung in Autumns Gesicht in Großaufnahme vermittelt sich so alles Wissenswerte über die plump-dreisten Vereinnahmungsversuche durch mütterliche Mitarbeiterinnen in der ortsansässigen Schwangerschaftsberatung zu Hause in Pennsylvania. Und die Tränen, die sie später in der New Yorker Klinik bei der Beantwortung von Fragen zu ihren Erfahrungen mit Sexualität und Partnerschaft im Multiple-Choice-Verfahren – „niemals-selten-manchmal-immer“ – nicht zurückhalten kann, sprechen Bände, wie sehr sie die Gestaltungsmacht über ihr Schicksal schon lang verloren hat.

An keiner Stelle werden dagegen Erklärungen gegeben, und auch auf die Frage, wer der Vater des als Fremdkörper und Bedrohung empfundenen Fötus in Autumns Bauch sein könnte oder wie die Beziehungen zu den Jungs an ihrer Schule sich im Einzelnen gestalten, verschwendet der Film keine Minute. Gerade aus dieser Verengung des Blicks auf eine sehr persönliche Subjektive, die ganz im Augenblick verharrt, schafft er es immer wieder, konkret vorzuführen, wie das Gesellschaftliche das Individuum körperlich von Moment zu Moment beherrscht. Und er zeigt, auf welche mögliche Gegenkraft sich setzen lässt, um diese Determination wenigstens ab und zu zu durchbrechen – die einer bedingungslosen Freundschaft.

„Niemals Selten Manchmal Immer“, Regie: Eliza Hittman (101 min) mit Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin u. a. Kinostart 1.10.2020