Eltern haften für ihre Kinder. Auch in Kinoerzählungen. So sind sich Vater Gorka (Martxelo Rubio) und Lita (Itziar Lazkano), die Großmutter, einig: dass mit ihrem achtjährigen Nesthäkchen etwas nicht stimmt, ist die Schuld des elterlichen Verwöhn- und Kuschelkurses und einer Erziehung, die sich weigert, Grenzen zu setzen. Beharrlich behandeln sie das Kind daher gegen seinen Willen als Jungen und nennen es beim (männlichen) Geburtsnamen Aitor. Die Geschwister sagen meist Cocó, und bis Lucía (Sofía Otero), wie sie am Ende heißen wird, zu ihrem Namen findet, vergeht eine Zeit des Suchens und Ausprobierens, des Zweifelns und der Selbstüberwindung. Von ihr erzählt der Debutfilm „20.000 Arten von Bienen“ von Estibaliz Urresola Solaguren, der bei der Berlinale in diesem Jahr sehr zu Recht mit dem Silbernen Bären für die beste Darstellerleistung ausgezeichnet wurde. Damit ist Sofía Otero bislang die jüngste Schauspielerin, die diesen Preis erhalten hat.
Erziehung und Eigensinn
Etwas weniger sicher, was Haftung und Einflussmöglichkeiten angeht, ist da schon Mutter Ane (Patricia López Arnaiz). Sie bemüht sich, ihrem auch ihr gegenüber häufig verschlossenem Kind weitgehende Freiheiten einzuräumen. Wie selbstverständlich beharrt sie immer wieder darauf, vorgegebenen Mädchen- und Jungenrollen seien nicht zu ernst zu nehmen. Andererseits ist sie aber weitgehend mit eigenen Krisen beschäftigt, so dass ihr anteilnehmendes Nachfragen immer wieder da Grenzen hat, wo es auf Widerstände trifft, die sich nicht binnen Kurzem liebevoll wegkuscheln lassen. Denn Zeit nehmen kann sich Ane für den kindlichen Eigensinn exakt so lang, bis sie wieder an anderen drängenden Projekten arbeiten muss. Schließlich hat sie, wie sie im Streit mit ihrer Mutter sagt, drei Kinder durchzubringen; dazu kriselt es mit Gorka, das Geld ist permanent knapp und als Künstlerin möchte sie, die Tochter eines Bildhauers, auch unbedingt anerkannt werden. Kein Wunder, dass ein Nervenzusammenbruch beständig greifbar nah scheint, erst recht in den Ferien, die sie zu viert als vaterlose Familie bei Anes Mutter im spanischen Teil des Baskenlandes im Dorf ihrer Kindheit verbringen.
Kinder hingegen müssen ihren Eltern manchmal aus dem Weg gehen, wenn sie zu sich selbst beziehungsweise denen, die sie sein möchten, finden wollen. So verschließt sich Lucía/Cocò/Aitor Ane und den Geschwistern gegenüber, vermeidet Situationen, die Bedrängnis bedeuten könnten, wie Besuche im Schwimmbad, und lässt sich stattdessen lieber darauf ein, die fremde und zunächst etwas seltsam erscheinende Welt der Großtante Lourdes (Ane Gabarain) zu erkunden. Diese ist in langer Familientradition Imkerin, lebt für und mit ihren Bienen, an die sie das anfangs noch ängstliche Kind heranführt. Vor allem aber ist sie entgegen anderen Erwachsenen in der Lage, zuzuhören und aufzugreifen, was sie hört.
Suchen und schauen
Getragen vom erstaunlich nuancierten Spiel der selbst zum Zeitpunkt der Dreharbeiten erst achtjährigen Sofía Otero beschäftigt sich „20.000 Arten von Bienen“ auf angenehm unaufgeregte Art mit Fragen der Identität, die aus der kindlichen Sicht in ihrer ganz grundsätzlichen Dringlichkeit erfahrbar werden. Etwa wenn Cocò, noch bevor sie zu Lucía wird, ihren Bruder fragt, warum er eigentlich so genau wisse, wer und was er ist, sie aber nicht. Abgesehen von diesem – manchmal verbündeten, manchmal als feindselig empfundenen – Bruder gibt es in der Ferienwelt der baskischen Hügel in der Hauptsache Frauen, Heilige und Bienen. Alle spielen sie ihre Rollen und scheinen ihre Plätze im gemeinsam bewohnten Kosmos gefunden zu haben, womit sie immerhin als Orientierungshilfen zu gebrauchen sind.
Ähnlich wie in Carla Simóns „Alcarràs“ – wenn auch nicht mit derselben lichtdurchtränkt zauberischen Verwobenheitsintensität – ist die Kamera immer dicht an den Charakteren, nimmt ihre Sicht ein oder wird zum Mitspieler und Gegenüber. Sehr genau hält sie fest, wie sich der Ausdruck auf dem Gesicht der Protagonistin wandelt, wenn sie zum ersten Mal von Lourdes mitten in die schwärmenden Bienen gesetzt wird und ihre ängstliche Anspannung unter den Atemanweisungen der Kinder- und Bienenversteherin langsam abfällt oder plötzliche Wut auf die als übergriffig empfundene Mutter allmählich wieder nachlässt.
Was von diesem Film allerdings am längsten in Erinnerung bleibt und nachhallt, sind die Szenen, in denen sich Kinder in Abwesenheit Erwachsener untereinander verständigen. Ganz ungerührt bleibt da zum Beispiel die neu gewonnene Freundin, mit der sich Cocò/Lucía im Wald gemeinsam umzieht, um Badehosen zu tauschen – auch als sie bemerkt, dass das Mädchen mit den langen Haaren, als das sie Cocò kennengelernt hat, einen Penis hat. Statt sich zu wundern, dass möglicherweise etwas zwischen ihrer Erwartung und der sichtbaren Realität nicht übereinstimmt, sagt sie nur, in ihrer Klasse gebe es auch einen Jungen, der eine Mumu habe. Dieser akzeptierende Blick auf die Oberflächen der Dinge und ihre Ausstrahlung ist es, der „20.000 Arten von Bienen“ besonders macht. Statt Lösungen für ihre Figuren zu erfinden, umkreist Estibaliz Urresola Solaguren deren Fragen an sich selbst und den eigenen Platz in der Welt.
20.000 Arten von Bienen (Spanien 2023), Regie: Estibaliz Urresola Solaguren (125 min) mit Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain u. a.