Wes Anderson mit gleich vier – kürzeren und kurzen – Roald-Dahl-Filmen auf Netflix, „Saint Omer“ und „Die Frau im Nebel“ bei Mubi. Sieht aus, als machten sich diesen Herbst Screeningdienst-Abos bezahlt. Vor allem aber, weil man auch Perlen wie „Aftersun“ noch mal schauen kann.

Letzter Urlaub

Gute Coming-of-Age-Geschichten transportieren immer eine Ahnung von Abschied und Tod. So auch Charlotte Wells‘ Filmdebut „Aftersun“ von 2022. Es schildert einen Urlaub, den ein junger britischer Vater und seine elfjährige Tochter in den 90er Jahren zu zweit an der türkischen Riviera verbringen. Bevor Menschen beständig auf ihre Smartphones schauten und jede Nuance ihres (Er-)Lebens mit ihrer Hilfe in wolkige Datenspeichern bannten, funktionierte Kommunikation mit der Heimat zu dieser Zeit noch über Anrufe aus Telefonzellen, und Erinnerungen wurden in die heute pixelig ausgewaschen anmutenden Bilder etwas plumper DV Kameras gebannt. Hier bedient in der Hauptsache Sophie (Frankie Corio), das präpubertär-aufgeweckte Mädchen, diese Kamera. Dreißig Jahre später wird sie anhand der damaligen Aufnahmen ihre zu Ende gehende Kindheit Revue passieren lassen und das Andenken an ihren Vater heraufbeschwören.

Mit ihrem Wunsch, den Vater einzufangen und zu interviewen, überfordert sie jenen bisweilen. Calum (Paul Mescal) steht zu Beginn des Urlaubs kurz vor seinem 31. Geburtstag und merkt, dass er auf bestimmte Fragen seiner Tochter keine Antworten – etwa die, was er sich in ihrem Alter von seinem Leben erhofft hat – zu geben weiß. Zumindest keine, mit denen er leben kann. Es ist ihm aber wichtig, seiner Tochter eine unbeschwerte Zeit zu ermöglichen. Daher übergeht er, wovon er nicht sprechen kann, und ist bemüht, permanent für Spaß und Action zu sorgen. Dafür, dass sie die erste Nacht zusammen in einem Bett schlafen müssen, weil etwas bei der Buchung schiefgegangen ist, entschuldigt er sich immer wieder, ebenso für den Baulärm im Hotel, der sie zwingt, andere Orte aufzusuchen, um zu frühstücken oder am Swimmingpool in der Sonne zu liegen.

Wie man nach und nach aus ihren Gesprächen erfährt, ist es nicht der erste Urlaub, den sie zu zweit verbringen; darüber hinaus sehen sie sich kaum, was die gemeinsamen Tage umso kostbarer macht. Calum ist nicht mehr mit Sophies Mutter zusammen; vor Jahren schon haben sie sich getrennt und er ist von Edinburgh, wo sie zu dritt gelebt haben, er sich aber nie heimisch fühlte, fort- und nach London gegangen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Wie man sich zusammenreimen kann, ist auch dieses nicht in jeder Beziehung seinen Wünschen entsprechend verlaufen.

Trotz seiner spürbaren Angst, der Tochter nicht genug zu bieten, nicht umfassend genug für sie da zu sein, macht Sophie nicht den Eindruck, als nehme sie ihm etwas übel oder müsse in ihrem Leben viel vermissen. Die Lage zu Hause sei gut, sagt sie auf seine Erkundigung hin, viel besser als im letzten Jahr, und es beschäftigt sie viel mehr, warum Calum am Telefon zum Abschied von der Mutter immer noch sagt „Ich hab dich lieb“. Mehr noch, als dass das eine Floskel sei, beharrt Calum darauf, er und Sophies Mutter würden immer Familie bleiben.

Ihre Urlaubstage vergehen mit dem Ausprobieren der Kamera, sehnsüchtigen Blicken in den Himmel, an dem Gleitschirmflieger hinter Booten ihre Bahnen ziehen – was Sophie zu gern ebenfalls ausprobieren würde, wäre sie nicht undankbarer Weise zu klein dafür – dem Verlust einer teuren Taucherbrille, Spötteleien und Animationsprogrammen. Weil sie alle im Billard schlägt, freundet sich Sophie mit einer Gruppe älterer Teenager an, erlebt dann aber mit dem gleichaltrigen Mike ihren ersten, eher harmlosen Kuss. Calum, der anfangs einen Gipsverband an einem Handgelenk trägt, belustigt Sophie mit peinlichen Tai-Chi- und Dance-Moves auf dem Balkon und kauft einen – für ihn – viel zu teuren handgeknüpften Teppich, der später wieder im Besitz der älteren Sophie auftaucht.

Den Aufnahmen ihrer DV-Cam, die außer Urlaubsbildern auch Teile der gegenseitigen Befragungen und spielerischen Frotzeleien aufnimmt, fügt der Film weiter Bilder banaler Urlaubsaktivitäten hinzu; auch sie sind in ihrer Ästhetik nah an Betrachtung von Umgebung und Gegenständen, wie etwas träge Augen sie in der Sommerhitze der Ferien wahrnehmen, häufig glitzert die Wasseroberfläche in der Sonne oder Personen stehen als Schattenrisse vor Gegenlicht. Dennoch wird im Verlauf der Schilderungen, die zu einem Großteil Sophies Erinnerungen entsprechen mögen, eine Grundtraurigkeit spürbar, die der Buntheit der Dinge, dem touristischen Treiben, Calums bisweilen überschwänglicher Körperlichkeit oder der Dunkelheit des Abends am Meer anhaftet. Vor allem aber kommt sie in der Besonderheit des Umgangs der beiden großartigen Darsteller miteinander zum Tragen, in der kompliziert-symbiotischen Beziehung zwischen dem lebenszugewandten Teenager und dem jungmännlichen Vater, den eine Frage oder hingeworfene Bemerkung der Tochter aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag. Sophie gegenüber überspielt er diese Schwermut, indem er sie immer anspornt, aktiv zu werden und Spaß zu haben. Allein jedoch kann er nicht anders, als sie durch Bier zu dämpfen oder herzzerreißend im einsamen Hotelzimmer in Tränen auszubrechen.

Am Abend vor seinem Geburtstag verschwindet er, während Sophie im Hotel ihren Erkundigungen nachgeht, im Dunkel der Nacht am menschenleeren Strand, und Sophie findet ihn spätnachts nackt im Zimmer, das sie sich vom Rezeptionisten aufschließen lassen muss.

Zwischen die von der DV-Cam aufgezeichnete Abschiedsszene mit gegenseitigen Liebesbeteuerungen und eine letzte gemeinsame Tanzszene zu Queens und David Bowies „Under Pressure“, bei der Calum sich in ekstatischer Hingabe vergisst, hat Charlotte Wells kurze Sequenzen geschnitten, in denen die erwachsene Sophie ihren Vater im Stroboskoplicht düsterer Clubszenen tanzen sieht. Erklärt wird nichts von alldem. Dennoch reicht die kunstvoll nebensächlich scheinender Zusammenstellung der verschiedenen Perspektiven auf die Oberflächen eines Teilfamilienlebens, um dessen Tiefe in ihrer Ambivalenz zwischen Liebe, Sehnsucht und Verlust spür- und nachempfindbar zu machen.

Aftersun (USA, UK 2022, 101 min), Buch und Regie: Charlotte Wells mit Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall u. a.