Wem’s zu gut geht, der muss sich – und seinem Umfeld – selbst die existenziellen Probleme bereiten, ohne die es dem Leben an der nötigen Würze fehlen würde. Mit Mitte dreißig hat Tomas (Franz Rogowski) erreicht, wovon andere träumen. Als wohlsituierter Expat lebt er mit seinem Mann, dem Briten Martin (Ben Whishaw) in einer geräumigen Wohnung in Paris, wo sie beide in internationalen Künstlerkreisen verkehren, in schicken Restaurants Freundschaften pflegen und der eigenen Kreativität freien Lauf lassen. Am Filmset, an dem wir Tomas beim Dreh der letzten Szenen seines aktuellen Films kennenlernen, ist er als deutscher Regisseur mit gemäßigtem Fassbinder-Gestus eine Autorität. Unzufrieden mit Details bricht er mehrfach hintereinander eine Einstellung ab und steigert sich bei der Erklärung, was besser gemacht werden muss, in kleine Wutausbrüche hinein. Unter der kontrollierten Oberfläche dieses Mannes, versteht man, brodelt eine explosive Mischung aus Pedanterie und kaum zu zügelndem Jähzorn.
Am Abend wird der Drehschluss in einer Bar gefeiert. Martin, der deutlich reflektiertere der Ehepartner, der Tomas zu Hause durch zurückgenommene Ironie Paroli bietet, weiß aus Erfahrung, dass der Abschluss eines Werks für seinen Mann stets eine emotional schwierige Situation bedeutet. Das Nachlassen des Drucks, der während der Arbeit auf ihm gelastet hat, bricht sich dann regelmäßig in wildem Eskapismus Bahn. Da er keine Lust hat, das mitzuerleben, verabschiedet er sich früh und verweigert Tomas den von ihm geforderten Tanz. Das ist eine Gelegenheit, die sich die junge Lehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulus) nicht entgehen lässt: Mehr als bereitwillig springt sie auf der Tanzfläche für Martin ein – und innerhalb kürzester Zeit gelingt es ihr, den in seinem Narzissmus gekränkten, für sie in seiner Berühmtheit und ausgestellten Homosexualität doppelt attraktiven Künstler zu verführen. Sie beginnen eine leidenschaftliche Affäre, und Tomas stellt fest, dass ihm Agathe etwas gibt, das ihm gefehlt zu haben scheint.
In einer Mischung aus Schuldgefühl und Begeisterung versucht er am nächsten Tag, Martin an seiner Erfahrung teilhaben lassen, aber der will davon verständlicher Weise nichts hören. Es kommt zum Streit und kurz darauf zieht Tomas aus der gemeinsamen Wohnung aus und bei Agathe ein. Doch als er mitbekommt, dass der von ihm verlassene Martin eine neue Beziehung mit einem aufstrebenden Schriftsteller beginnt, erwacht seine Eifersucht. Immer wieder taucht Tomas unangekündigt in der einst gemeinsamen Wohnung auf, als sei er dort noch zu Hause. Und irgendwann bekommt er, was er will: leidenschaftlichen Versöhnungssex mit dem Ex. Spätestens hier ist klar, dass es für Tomas weder um eine außereheliche Affäre und deren Aufarbeitung noch eine Trennung und einen Neuanfang geht. Es geht um viel mehr, sozusagen alles: Denn das eine haben zu können, darf für ihn nicht bedeuten, auf das andere verzichten zu müssen. Vielmehr versucht er, das Beziehungsgefüge mit den beiden geliebten Menschen als ganz auf seine Bedürfnisse ausgerichtetes Dreieck zu festigen. Dafür ist er bereit, zu lügen, zu tricksen und alle ihm zur Verfügung stehende Mittel einzusetzen. Dennoch verschieben sich die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten mit ihren sehr unterschiedlichen emotionalen Dispositionen und Hintergründen permanent – und wie es praktisch von Anfang an zu erwarten steht, geht das auf die Dauer für keinen gut aus.
Im Zoom-Interview sagt Ira Sachs, er habe seinen so düsteren wie emotional intensiven Film von Anfang an ganz für Franz Rogowski geschrieben. Zum ersten Mal aufgefallen sei ihm der Schauspieler in Michael Hanekes „Happy End“ (2017), in dem er ihn als Schauspiel-Tier, als „Beast of cinema“ wahrgenommen habe. Als solches dominiert Rogowski auch hier mit seinem körperbetonten Spiel die Szenen, in denen er seine Auftritte hat. In ständig wechselnden Outfits, die viel Haut zeigen und dabei gleichzeitig verspielt, weich und immer etwas neben der Spur wirken, gibt er Tomas als Getriebenen, der mehr Liebe und Bestätigung nötig hat, als die Welt ihm je geben kann, weshalb er manisch darum kämpft, sich immerzu soviel davon zu sichern wie nur irgend möglich. Doch so impulsiv, wie er sich in Abenteuer stürzt, so bewusst ist er sich seiner Übertretungen und Manipulationen. Signifikant zum Ausdruck kommt das in einem wiederkehrenden kurzen Innehalten, bevor er sich in eine neue Situation hineinbegibt. So etwa, wenn er nach der ersten Nacht mit Agathe zurück zu Martin kommt und vor der Tür erst noch kurz durchatmet, um dann mit einem lauten „Guten Morgen!“ auf den Lippen die Wohnung zu betreten. Nach ähnlichen Momenten des Zurückschaltens folgt auf die meisten seiner Ausbrüche umgehend eine Relativierung, die ihn wieder gesellschaftsfähig erscheinen lassen soll. Wie das Getriebene nimmt man Rogowski den Kontrollfetischismus durchgehend ab, nicht zuletzt, weil sein zum Markenzeichen erhobenes Anspielen gegen den von einer frühkindlichen Gaumenspalte rührenden und – bewusst – nie wirklich zur Gänze behandelten Sprachfehler, ein leichtes, aber präsentes Lispeln, seinem Charakter eine Note kämpferischer Diszipliniertheit verleiht.
Als kongenialer Casting-Schachzug erweist sich außerdem die Wahl von Ben Whishaw als Konterpart. Weicher, fast jungenhaft, ist er schon optisch die Antithese zum Protagonisten; seine Zurückhaltung, die gewählte britische Artikulationsweise und das durchgängige Understatement lassen Rogowskis deutsches Berserkertum gleichzeitig Mal um Mal auflaufen und kontrastieren es. Adèle Exarchopoulus überzeugt als Agathe und dritte im Bunde immer dann, wenn sie die Initiative ergreift, ebenfalls. Allerdings gesteht ihr das Drehbuch deutlich seltener zu Akzente zu setzen als den beiden männlichen Hauptfiguren, gegenüber denen sie daher zuletzt doch etwas blass bleibt.
Spielten in früheren Filmen von Ira Sachs New York und die sich verschärfenden Gentrifizierungsprozesse in der Stadt eine wichtige Rolle – etwa in Form von Mietstreitigkeiten und Verdrängung in „Little Men“ (2016) – stehen Tomas und Martin in Paris klar auf der Gewinnerseite der stadtgesellschaftlichen Segregation: Außer ihrer Wohnung besitzen sie ein Haus auf dem Land, um das sie streiten können. Vor allem aber trennt sie ihr Immobilienbesitz, der ihnen zusätzliche Macht verleiht, sehr deutlich von Agathe und den kleineren und in ganz anderer Weise auf Verlässlichkeit angewiesenen Verhältnissen, aus denen sie stammt.
„Man kann keine Charaktere schreiben, ohne über ihre Beziehung zu Land und Macht nachzudenken“, sagt Ira Sachs. „Immobilien sind in diesem Film ein Machtinstrument. Bei Martin und Tomas fließen sie direkt in ihre Persönlichkeiten ein.“ Vor allem damit geht „Passages“ über die bloße Studie eines toxisch narzisstischen Mannes in der Stadt der Liebe hinaus. Dass der Regisseur mit der Stadt, in der er seinen Film spielen lässt, aus eigener Erfahrung bestens vertraut ist, hilft ihm darüber hinaus, sich mit dem Werk in eine von der Nouvelle Vague kommende Traditionslinie politisch grundierter Beziehungsfilme einzureihen und durchaus neben deren letzten gelungenen Aktualisierungen – etwa Jacques Audiards „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (2021) – zu bestehen.
Passages (Frankreich 2023), Regie: Ira Sachs (91 min) mit Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulus u. a.