Die Schlafwandlerin Karen (Bodil Jørgensen) schaut abends auf DVD Lars von Triers „Hospital der Geister“. Mit dem offenen Ende der zweiten Staffel ist sie alles andere als einverstanden. Kaum entschlummert ruft sie eine Stimme ins Kopenhagener Reichskrankenhaus, den Schauplatz der Saga. Hier geht sie zwischen Schlafen und Wachen gemeinsam mit dem Pfleger Balder (Nicolas Bro) und der Kardiologin Judith (Brigitte Raaberg) daran, inmitten aller möglicher weiterer Absonderlichkeiten die Geister zu erlösen, die dort nach wie vor ihr Unwesen treiben. Ganz akut muss sie das zum riesigen Bruder herangewachsene „Brüderchen“ (Udo Kier) – Judiths verlorenen Sohn aus der zweiten Staffel – retten, das als Torwächter in der Zwischenwelt eine wichtige Aufgabe innehat, nun aber in den eigenen Tränen zu ertrinken droht.

25 Jahre nach dem bisherigen Schlusspunkt der Serie kommt jetzt zu Halloween unter dem Titel „Geister – Exodus“ die finale dritte Staffel als Specialevent für kurze Zeit in die Kinos, bevor die Auswertung in Mediatheken und Streamingdiensten beginnt.

Mit der ersten Staffel von „Riget“ („Das Reich“), so der Originaltitel, schrieb Lars von Trier 1994 in Dänemark Fernsehgeschichte. 1995 wurde die Serie erstmals auf Arte in Deutschland ausgestrahlt, noch bevor mit „Emergency Room“ (1994–2009) die Übermutter aller Ärzte- und Langzeitserien anlief. Deutscher Standard der Fernsehunterhaltung war damals neben dem Tatort eher noch „Die Schwarzwaldklinik“ (1984–88).

Im Cheafarztzimmer. „Geister – Exodus“ © Zentropa Henrik Ohsten

Am Kipppunkt aufklärerischer Dialektik

Von Anfang an sollte „Hospital der Geister“ mehr sein als eine um Horrorelemente aufgepeppte klamaukig-splattrige Satire auf bestehende Fernsehformate. Schon die im Vorspann jeder Episode wiederholte Verortung des Geschehens nicht nur im Raum, sondern auch in der Geschichte technischen und wissenschaftlichen Fortschritts macht klar, als wie großen Wurf der um große Pläne selten verlegene Däne die Serie angelegt hat. Über in Sepiatöne getauchten Bildern von langsam ihrer Arbeit nachgehenden Gestalten inmitten einer Sumpflandschaft berichtet eine Off-Stimme, dass das königliche Reichskrankenhaus steht, wo früher Bleicher ihre Tücher wässerten und zum Trocknen ausbreiteten, weshalb der Ort in ewigen – höchst gesundheitsschädigenden – Nebel gehüllt war. „Jahrhunderte später wurde hier das königliche Reichskrankenhaus gebaut, die Bleicher wichen den Ärzten und Forschern, den klügsten Köpfen des Landes und ihrer hochmodernen Technologie […] Von nun an sollte gemessen und gezählt werden, auf dass nie mehr Aberglaube und Unwissenheit die Bastion der Wissenschaft erschüttere. Aber vielleicht wurden sie zu anmaßend in ihrer hartnäckigen Leugnung der spirituellen Welt, denn es ist, als wären Dampf und Kälte zurückgekehrt.“

Von Trier errichtet das Krankenhaus seiner Erzählung, wo Aufklärung in ihr Gegenteil kippt. Aus Naturbeherrschung und Überwindung von Unvernunft und Mythos entstehen durch Hybris neuer Irrsinn und Verblendung. Einer Tradition des Horror-Genres folgend drückt sich das im Gebäude und seiner Belegung aus: Halbgötter in Weiß haben in den oberen Geschossen die Herrschaft über Leben und Tod übernommen und sich jeder Rechenschaft entzogen. Dagegen nisten in Aufzügen, Versorgungsschächten und im Keller die Wiedergänger ihrer Opfer und der verdrängten Vorgeschichte, die darauf warten, Erlösung zu finden oder Rache zu nehmen. Das Krankenhaus selbst wird in wiederholten Einstellungen ebenfalls zum Subjekt, in dessen „so modernen und scheinbar soliden“ Mauern „erste Ermüdungsrisse sichtbar werden“: Zeichen dafür, dass sich die Tore zum Reich, das hier sowohl das Zwischenreich der Geister als auch das Krankenhaus meint, zum großen Exodus wieder öffnen.

Schön hässlich

Inspiriert von David Lynchs „Twin Peaks“ (1990-91 und 2017) schuf von Trier eine bis dahin ungesehene Mixtur aus verschiedenen Genrezutaten, die in ihrem Zusammenwirken von Sozialsatire, Splattermomenten und reflektiertem Horror bemerkenswert frisch daherkam und 1996 unter anderem mit dem Grimme-Preis bedacht wurde. Besonders stach sie durch ihre ganz eigene Ästhetik hervor, die deutlich mit dem bekannten Fernsehallerlei brach. Teilweise nahmen die Handkamerabilder, die weitgehend auf klassische Kadrierung filmische Ausleuchtung verzichteten, dabei Forderungen des 1995 zusammen mit Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen veröffentlichten „Dogma“-Manifests vorweg. Hier kann sich das evozierte Grauen tatsächlich in der grauen Löchrigkeit zwischen den Bildpunkten einnisten. (Noch einen Schritt weiter gegangen ist von Trier, dessen Bilder in ihrer erhabenen Schönheit im anderen Extrem durchaus immer wieder ins Kitschige tendieren – etwa bei den an Landschaftsgemälde erinnernden Tableaus, die die Kapitel von „Breaking the Waves“ (1995) trennen, in „Melancholia“ (2011) oder der in Schwarzweiß gestalteten Eingangssequenz von „Antichrist“ (2008) –, nur bei seinem wahrscheinlich nicht bedeutendsten, in jedem Fall aber lustigsten Film: Für „The Boss of it All“ (2006) hat er mit dem Automavision-Verfahren ein Bildgestaltungsprogramm entwickelt, bei dem durch Zufallsgeneratoren willkürlich einzelne Parameter in den eingerichteten Bildern verändert wurden, um so mit überkommenen Sehgewohnheiten und vorschneller Beurteilungen von Ästhetik zu brechen.)

Während die Blutströme, die die Mauer mit der Titelschrift durchbrechen, deutlich auf die Blutkaskaden verweisen, die Stanley Kubrick in „Shining“ (1980) die Gänge des Overlook Hotels fluten lässt, fügt von Trier der Logik des Horrors jedoch immer wieder ganz eigene Twists hinzu. Bietet Kubrick eine letztlich dystopische Allegorie des Zurückfallens in die Naturgeschichte, in der die Figuren Teil eines blindwütig ablaufenden Geschlechterkampfs sind, der eine Familie in der Einsamkeit des Winters im Hochgebirge in Wahnsinn und Mord treibt, vervielfacht von Trier an seinem sehr viel belebteren Schauplatz die Konflikte. Seine Ärzte treten rassistisch, sexistisch oder auf andere Weise menschenverachtend auf, aber immer wieder unterlaufen die ambivalente Anlage ihrer Charaktere und schräger Humor das Verderben, das ihr Tun zeugt. Und bei aller Nähe zu Teufeln und den Übeln der Geschichte gibt es immer wieder auch überraschende soziale Allianzen oder die Verweigerung, das Erbe des Bösen fortzuführen. So ist „Brüderchen“ zwar ein Sohn Satans, lehnt aber die Forderung seines Vaters ab, sich dem Bösen zuzuwenden, um Macht zu erlangen. Aus freiem Willen opfert er sich, um seine ihn liebende Mutter Judith und das „Reich“ vor dem Untergang zu bewahren.

Kontinuität und Kommentar

Stilistisch schließt die dritte Staffel mit Reißschwenks und körnigen Bildern an, wo die zweite vor einem Vierteljahrhundert endete, ergänzt ihre Erzählung aber um die eingangs erwähnte Metaebene. So darf das Krankenhauspersonal in regelmäßigen Abständen über Imageschäden klagen, die die Serie ihm zugefügt hat. Mit dem neuen schwedischen Oberarzt Helmer Jr. (Mikael Persbrandt) beerbt der Sohn Stieg Helmers den früheren Dänenhasser, dessen Feldzug er fortführen will. Dafür findet er bei den im Krankenhauskeller stattfindenden Versammlungen der anonymen Schweden eine ganze Menge an Gleichgesinnten. Der Krankenhausdirektor Bob (Henning Jensen) kümmert sich vor allem um Sparvorgaben und seine viel zu einfachen Computer-Patiencen, während der Chef der Neurologie Pontopidan (Lars Mikkelsen) damit beschäftigt ist, Patient:innen, Geistern und Streit aus dem Weg zu gehen und stattdessen ständig nach Packungen gefrorener Erbsen sucht, die er sich bei seinen Nickerchen in den Nacken legt. Mit vielen neuen skurrilen Gestalten, einer arbeitsverweigernden KI, Operationen an einem offenen Riesenherz und bedrohlich in Richtung Exodus anziehendem Spuk ist für Spannung wie für schwarzhumorige Unterhaltung gesorgt.

Hatte von Trier früher die Episoden im Anzug abmoderiert, hängt nun am Ende der Folgen ein Adventskranz vor einem roten Vorhang, der von einer Parkinsonerkrankung gezeichnete Urheber des Ganzen wird allein durch ein Paar schwarzer Schuhe und seine Stimme vertreten – ein Zeichen, dass das Serienfinale etwas wie den Schlusspunkt eines über Jahrzehnte immer wieder gefeierten wie umstrittenen Werks darstellen könnte. In einzelnen Episoden führt das allerdings wie auch schon im letzten Film, der missratenen Serienmördergroteske „The House That Jack Built“ (2018), zu mehr Nabelschau, als der Sache guttut. So werden etwa ausführlich die Gefahren übertriebener metoo-Sensibilisierung aus männlicher Sicht geschildert, was wohl einen Kommentar zu Björks Vorwürfen sexuellen Missbrauchs durch den Regisseur am Set von „Dancer in the Dark“ (2000) darstellt – den von Trier immer abgestritten hat. Andererseits sorgt die persönliche Beschäftigung mit Tod und Endlichkeit für eine angenehm melancholische Grundierung der Erzählung und einige interessante Einsichten in den Abmoderationen. Und einen ganz großen eigenen Auftritt zum Finale gönnt sich der skandalerprobte Meister – zusammen mit Gaststar Willem Dafoe als teuflischem Grand Duc – ebenfalls.

Geister – Exodus, Regie: Lars von Trier (Miniserie, Dänemark 2022, 5 Folgen, 306 min) mit Karen Svensson, Mikael Persbrandt, Lars Mikkelsen u. a. Kinostart: 26.10.23