Im Grünen Salon der Volksbühne läuft Teslokratie. Gefragt wird unter anderem, wie Demokratie weiter funktionieren soll, wenn ihre gewählten Vertreter und Bevollmächtigten sich von einer Techno-Autofabrik abhängig machen, die mehr Probleme aufwirft als sie löst. Und dabei Autokraten wie Elon Musk nicht nur gestatten, Regeln zu übertreten, sondern dafür sogar ein ums andere Mal den Weg ebnen. Etwa, wenn es um Wasservorkommen, ihre Nutzung und den notwendigen Konsens darum geht. Alex Demirović, Philosoph und im Vorstand der ausrichtenden Rosa Luxemburg Stiftung, resümiert: Was man vor allem tun muss, ist immer sagen, was wirklich ist. Damit bleibt er sich als kritischer Theoretiker alter Schule – sehr zu recht – treu.

Ebenfalls um einen Fall von Wasser und seine Nutzung geht es im neuen Meisterwerk von Ryūsuke Hamaguchi „Evil Does Not Exist“. Auch hier gibt es keine einfachen Antworten auf Fragen.

EVIL DOES NOT EXIST: Takumi (Hitoshi Omika) und seine Tochter Hana (Ryo Nishikawa) im Wald. Foto: © Pandora Film / NEOPA, Fictive

Jenseits von Gut und Böse

„Evil Does Not Exist“ beginnt mit einer langen gleichmäßigen Kamerafahrt durch einen Wald. Der Blick ist gerade nach oben in den Winterhimmel gerichtet, vor dem kahle Äste und die Baumspitzen von Kiefern und Lärchen dahinziehen – eine Perspektive, die, wie viele im Film, keiner Alltagswahrnehmung entspricht. Zusammen mit der über der Szene liegenden Musik ergibt sie ein Bild-Sound-Ganzes mit Sogwirkung, das schließlich mit dem Umschnitt auf eine blaue Mütze jäh abbricht. Diese sitzt auf dem Kopf von Hana (Ryo Nichikawa), einem Mädchen im Grundschulalter, das den Wald mit staunenden Augen erforscht. Wie häufig hat sie sich von ihrer Schule aus allein auf den Heimweg gemacht, weil ihr Vater Takumi mal wieder zu spät ist, um sie abzuholen.

Die beiden leben nach dem Tod von Hanas Mutter in einer kleinen Dorfgemeinschaft im ländlichen Japan unweit des Großraums Tokio. Fast dokumentarisch beobachtet der Film zunächst ihren Alltag. In stoischer Ruhe ist Takumi – dessen Darsteller Hitoshi Omika Regisseur Ryūsuke Hamaguchi aus seinem Stab heraus rekrutiert und hier in seiner ersten Rolle besetzt hat – darin damit beschäftigt, Brennholz zu machen oder Quellwasser in Kanister zu schöpfen, die er mit Hilfe eines weiteren Mannes abtransportiert, um sie im Ort zu verteilen. Gesprochen wird während dieser Tätigkeiten bis auf wenige Höflichkeitsfloskeln so gut wie nicht. Dennoch freut man sich gemeinsam an der Entdeckung wilden Wasabis, der zum Würzen der Gerichte im örtlichen Nudelrestaurant Verwendung finden soll, und raucht in kurzen Pausen Zigaretten. Darüber lässt sich leicht die Zeit vergessen, und für Hanas Lehrerin ist es längst zur Routine geworden, dem Vater, wenn er mit seinem geländegängigen Wagen vor der Schule ankommt, mitzuteilen, seine Tochter sei bereits losgelaufen. Also sucht Takumi sie im Wald. Hat er sie gefunden, erklärt er geduldig die Unterschiede zwischen verschiedenen Baumarten, die Wege von Tieren oder – anhand eines verwesenden Skeletts –, dass sie vor allem Toten keine Angst haben muss.

Das beschauliche Leben der Dorfbevölkerung gerät in Aufruhr, als eine Agentur aus Tokio, die eigentlich auf die Vermittlung von Schauspielern spezialisiert ist, in der Gegend eine Glamping-Anlage eröffnen will. Mit dieser Idee vom glamourösen Camping möchte sie gestressten Großstadtbewohner:innen die Möglichkeit bieten, sich zu erholen und in aller Bequemlichkeit vollversorgt Naturerfahrungen zu machen. Vor allem aber geht es ihren Managern darum, mit dem Projekt schnell noch die letzten pandemiebedingten Subventionen abzugreifen. Deshalb bleibt bei der Planung wenig Zeit, allen Ansprüchen an Umwelt- und Sozialverträglichkeit gerecht zu werden. Als mit Mayuzumi (Ayaka Shibutani) und Takahashi (Ryuji Kosaka) zwei Agenturvertreter in den Ort kommen, um den Anwohner:innen ihr Projekt vorzustellen, werden sie zu ihrer Überraschung mit so wütenden wie präzisen Einwänden konfrontiert, denen sie wenig entgegenzusetzen haben. Vor allem am Fassungsvermögen eines geplanten Abwassertanks entzünden sich Proteste. Bei voller Auslastung des Ressorts wäre er zu klein – die Verschmutzung des Quellwassers, des Lebenselixiers der gesamten Gegend, wäre vorprogrammiert und würde bis hinunter ins Tal verheerende Auswirkungen haben.

Dennoch hat Hamaguchi mit „Evil Does Not Exist“ nicht einfach ein didaktisches Plädoyer für den Umweltschutz geschaffen. Zwar wird das Bemühen der Dorfbewohner um ein austariertes Verhältnis zu den Ressourcen, von denen sie leben, ernst genommen und diesem das Bild eines skrupellos auf Gewinnerzielung setzenden Kapitalismus gegenübergestellt. Sehr deutlich nimmt letzterer keine Rücksichten auf die von seinen Maßnahmen betroffenen Menschen, Naturräume oder gar die Gefühle der für ihn Arbeitenden. Dennoch wird auf der anderen Seite kein romantisierendes Idealbild einer erhabenen Natur gezeichnet. Vielmehr wirken die Dörfler gerade aufgrund der Rationalität ihres Wissens um die Vorteile, die sie aus ihren eigenen Eingriffen ins Ökosystem ziehen, überlegen. Als Mayuzumi und Takahashi zurück in Tokyo ihren Vorgesetzten vom Aufeinandertreffen berichten, sind sie innerlich selbst schon halb zur anderen Seite übergelaufen. Die Aufforderung, trotzdem sogleich ins Dorf zurückzukehren, um dort Takumi zu umgarnen und ihm einen Job in der schnellstmöglich zu errichtenden Anlage anzubieten, verstehen sie als Chance auf ihren eigenen Ausstieg aus dem Job, der sich mit einem Mal ganz falsch anfühlt.

Als sie mit dem Waldbewohner ins wortkarge Gespräch kommen, nimmt ihre Wandlung unter seiner Obhut an Fahrt auf. Insbesondere Takahashi versucht, von Takumi zu lernen und ordnet sich ihm ganz unter. Doch als auch an diesem Tag Hana wieder für einen ihrer Streifzüge durch den allmählich aus der Winterstarre erwachenden Wald verschwindet und trotz immer weiter ausgeweiteter Suchaktionen nicht gefunden wird, nimmt der Film eine Wende, die nicht nur die Neuankömmlinge in der Wildnis überrascht. Beunruhigende Details wie Gewehrschüsse unbestimmten Ursprungs, die bis dahin nur beiläufig registriert worden sind, summieren sich mit den Verletzungsgefahren und Risiken der Wildnis zu einem umfassenden Bedrohungsszenarium. Irgendwann wird der Druck so groß, dass er sich in einem verhängnisvollen Ausbruch Luft macht.

Entstanden ist „Evil Does Not Exist“ aus einem gemeinsamen Projekt seines Regisseurs mit der Komponistin und Multiinstrumentalistin Eiko Ishibashi, mit der Hamaguchi bereits bei seinem Oscar prämierten Vorgänger „Drive My Car“ (2021) zusammengearbeitet hat. Bei der Erarbeitung der Szenen habe die Musik eine zentrale Rolle gespielt, gibt Hamaguchi im Presseheft zu Protokoll, während er frühere Filme viel stärker von den Dialogen der Figuren ausgehend entwickelt habe. Das habe ihm nun bei der Konzentration auf die – tatsächlich grandios gelungene – Bildgestaltung ganz neue Möglichkeiten eröffnet.

Selbstverständlich spielen aber auch in „Evil Does Not Exist“ die Gespräche zwischen den Protagonisten eine bedeutende Rolle, etwa wenn sich Mayuzumi und Takahashi auf ihrer Autofahrt ins Dorf neben dem Austausch über ihre beruflichen Werdegänge von unterschiedlichen Erfahrungen mit Dating-Apps berichten und ihre privaten Lebensziele skizzieren. Wie beim ebenfalls 2021 veröffentlichten Film „Das Glücksrad“ kommt man hier den Charakteren nahe, während sie beim Sprechen selbst erst beginnen, sich über ihre Gefühle klar zu werden.

Was „Evil Does Not Exist“ gegenüber früheren Werken seine deutlich gesteigerte Dynamik verschafft, ist allerdings tatsächlich das noch konzentriertere Zusammenspiel von kontinuierlich gleitenden Einstellungen und Musik. Es verwandelt den Film in eine Meditation über Kräfte und Geschwindigkeiten. Die gezeigten Menschen sind, selbst wenn sie ganz bei sich und ihrer Tätigkeit sind, beständig in weit größere Bewegungen eingebunden, die der Kamerablick bei aller Betrachtung von Alltäglichem nach und nach freilegt. Mit ihnen fließt das Dasein inmitten der Landschaft im Großen und Ganzen ruhig dahin, bis es mit einem Mal von einer gewaltigen Tiefenströmung erfasst und wie in einem Tsunami unvermittelt hinweggerissen wird. Aus dem dokumentarischen Modus schält sich so eine symbolisch-existenzielle Fabel über das Eingebettetsein des Einzelnen in die Wechselwirkungen des Gesamtzusammenhangs der Welt, in dem Kategorien wie Gut und Böse in der Tat keine Rolle spielen.

Evil Does Not Exist, Regie: Ryūsuke Hamaguchi (106 min) mit Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ayaka Shibutani u. a.