Am 3. Oktober bringt die Filmgalerie 451 Roland Klicks Meisterwerk „Supermarkt“ von 1974 in restaurierter Fassung zurück auf die große Leinwand. Auch 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung hat das als Actionspektakel inszenierte Sozialdrama nichts von seiner Wucht und seinem revolutionären Potenzial verloren.

Willi (Charly Wierzejewski) hat sich das Auto eines Gönners geliehen … Bild: Filmgalerie 451

Willi (Charly Wierzejewski) ist dünn und blass, eine verschlossene Gestalt auf der Schwelle zwischen einem Heranwachsen in Verwahrlosung und dem Dasein als Erwachsener ohne Perspektive. Das erste, was man von ihm mitbekommt, ist, wie er sich in der Toilette einer Bar wäscht und anschließend an der Theke wenige Groschen Trinkgeld von einem Teller klaut, nur um sie sofort wieder zu verlieren. Kurz darauf flieht er vor einer Polizeistreife, wird festgenommen und landet auf einer Hamburger Wache. Hier herrschen Gewimmel und Durcheinander, denn Willi ist kein Einzelfall.

Actionfilm als politische Sozialstudie

„Supermarkt“ spielt in den frühen 1970er Jahren der Bundesrepublik mit ihren Zügen einer erstarrten, mehrheitlich freudlosen Klassengesellschaft. Beamte und Jugendamtsmitarbeiter mühen sich nach Kräften, von ihnen als arbeitsscheues Gesindel klassifizierte junge Männer zurück in die Jobs zu expedieren, denen sie gerade entfleucht sind, oder sie in Heime für Schwererziehbare einweisen zu lassen. Dazwischen geben sich Journalisten auf der Suche nach Stories verständnisvoll und versuchen mit den Langhaarigen, die doch, wie sie insistieren, nie eine Chance hätten, ins Gespräch zu kommen. Gemeinsam mit einem zufälligen Weggefährten gelingt Willi die Flucht aus dieser Gemengelage.

Auch in der Folge wird er weiter durchs Bild, durch die Hinterhöfe und Kneipen der Stadt und sein Leben hetzen, ohne Aussicht darauf, länger als für ein paar Augenblicke zur Ruhe zu kommen. Erst, als er Monika (Eva Mattes) kennenlernt, eine Prostituierte, die in der rauen Hierarchie des Kiezes noch unter ihm steht, beginnt Willi, nach einem Ausweg für sich und ihre erwachende Liebe zu suchen. Dass der in einer Welt, in der alles vom Geld abhängt, nur in einem befreienden Coup, einem Einkauf mit „eiserner Scheckkarte“ (Roland Klick) bestehen kann, ist gleichermaßen dem Genre wie der Ausweglosigkeit der Lage geschuldet.

Bis es soweit ist, geht allerdings das Gerenne weiter. Ständig wird Willi Teil neuer Mengen und kurzfristiger Beziehungen und tritt wieder aus ihnen heraus. Die Kamera – geführt vom später vielfach preisgekrönten Kameramann Jost Vacano in einem seiner ersten Kinofilme – muss durchgängig ackern, um diesen Protagonisten nicht aus dem Bild zu verlieren.

Ein Antagonist im deutschen Film

„Supermarkt“ von 1974 ist nach dem Endzeitwestern „Deadlock“ (1970) Roland Klicks zweiterfolgreichster Film gewesen. Galt der Regisseur von seinen Anfängen mit Kurzfilmen und dem ersten, verstörenden Spielfilm „Bübchen“ (1968), in dem ein Zehnjähriger seine kleine Schwester tötet, zunächst als filmisches Wunderkind und Hoffnung des deutschen Films, fiel er bei der Kritik – und, wichtiger noch, der Filmförderung – mit seinen Erfolgen bald in Ungnade. Obwohl er mehrere Bundesfilmpreise gewann und die wenigen Filme, die er nach vielen Absagen und zähem Ringen mit Produzenten und Redakteuren ins Kino brachte, durchaus ihre Produktionskosten und mehr wieder einspielten, blieb er im Jungen Deutschen Film ein Außenseiter.

Anderseherum war ihm der Autorenfilm seiner Zeit zu verkopft, belehrend und steril – vor allem aber zu sehr für Zuschauer im intellektuellen Elfenbeinturm gedacht und gemacht. Dem wollte Klick ein Kino entgegensetzen, das dem Publikum Action und Schaulust bot, (Anti-)Helden, die eher echt als sympathisch waren, aus realistisch eingefangenen Milieus stammten und sich authentisch in ihnen bewegten. Für weitschweifige Dialoge oder gar Erklärungen und erhobene Zeigefinger gab es da keinen Platz, was ihm als Mangel als Reflexion angekreidet wurde.

Auch in „Supermarkt“, von heute aus betrachtet sicher Klicks zugänglichstes und überzeugendstes Werk, muss man sich die Identifikation mit den Figuren erarbeiten. Sie werden nicht freundlicher gezeichnet, als sie es als Herumtreiber und Kleinkriminelle sind. Dafür lassen Buch und Regie sie in ihrem Eigensinn vor sich hin wurschteln, wie es zu ihnen passt. Klick beobachtet ihr Treiben und die aus ihm resultierenden Ausbrüche und Abstürze, ohne sie zu werten. Dass sie in ihrem Eigensinn dabei letztlich so berühren, wie es dann der Fall ist, ist Klicks genauem Blick, seinem Feingefühl und großem handwerklichem Können geschuldet.

Das Wesen des Films

Die Kritik hat „Supermarkt“ lange Zeit als Actionfilm gesehen und ihm seine „amerikanische“ Machart vorgeworfen. Dabei hat sie aber übersehen, dass Action hier nicht in erster Linie Effekthascherei bedeutet. Vielmehr geht es darum, dass sich auf der Leinwand immer etwas tut, das sich verfolgen lässt, dass Bewegung, Farbe und Sound, nicht Sprache das Wesen des Films sind. Mit diesen Mitteln auszudrücken, was es an Befindlichkeiten, Hoffnungen und gesellschaftlicher Realität auszudrücken gibt, ist für Klick Aufgabe des Kinos.

Das Personal seines Films kommt wie das der Literatur eines Hubert Fichte oder Jörg Fauser von ganz unten. Von da, wo Aufstieg und Zugang in die Behaglichkeit der Mehrheitsgesellschaft von vornherein verbaut sind. In die Boutiquen, Restaurants und Häuser der Schönen und Reichen führt der Weg nur als Stricher oder Schützling. Beide Wege spielt „Supermarkt“ durch. Und beide Male sieht sich Willi gezwungen, den eigenen Willen gleichsam am Eingang abzulegen, was für ihn nicht geht. Also läuft er auf der Stelle und seine unterschwellige Wut wächst. Einzig kurze Momente mit Monika am Elbstrand oder ein Blick auf die idyllisch daliegende Alsterlandschaft vor der Gartenpforte des kunstsinnigen Freiers weisen auf mögliche Auswege. Doch die in ihnen enthaltenen Utopien verblassen schnell. Für Willi sind sie nicht viel mehr als eine Kulisse vor der er weiter kopflos in Richtung des in seiner entfesselten Bewegtheit großartig gefilmten Finales strebt.

Zeigen statt erklären

Viele der Handlungen des Protagonisten und seines Partners in Crime, dem von Walter Kohut grandios gespielten Zuhälterganoven Theo, sind impulsiv und unberechenbar. Statt psychologischer Herleitung ihres Verhaltens beschränkt sich „Supermarkt“ allein auf dessen Resultate – eben die Action. Und die fällt zwischen Ölkrise geschürten Abstiegsängsten und neuen sozialen Bewegungen inmitten trister städtischer Verkehrs- und Einkaufsbrachen so unbeholfen wie gewalttätig aus.

In einer nachträglichen Synchronisation hat Marius Müller-Westernhagen, der mit dem Titelsong einen frühen Erfolg feierte, dem Protagonisten seine Stimme geliehen, was heute für einen eigentümlichen Vertrautheitseffekt sorgt. Dennoch verharrt Willi-Darsteller Wierzejewski die meiste Zeit über in der fast sprachlosen Verlorenheit seiner ersten und einzigen Filmrolle. Erst viele Jahre später ist er für sie in die Reihe rebellierender Outlawhelden à la James Dean eingereiht worden ist, in die er gehört. Dazu gelingt es dem Film, die Raubtiermentalität der Willi umgebenden Kleinbürger mit ihrem Sound in zugespitzten Kommentaren von Passantinnen und Ordnungshütern aller Art präzise einzufangen.

Seit einigen Jahren haben das Werk Roland Klicks und vor allem „Supermarkt“ immerhin Kultstatus erlangt. Mit der Wiederaufführung im überarbeiteten 4K-Look ist nun ein Meilenstein des deutschen Films zum 50. Jubiläum sehr zu Recht wieder da zu sehen, wo er hingehört: auf der großen Leinwand.

Supermarkt, Regie: Roland Klick (84 min) mit Charly Wierzejewski, Eva Mattes, Michael Degen u. a.