Emilia Pérez ist das Filmereignis der Saison. Grund genug für die erste Gastkritik auf weltwundern seit Menschengedenken. Und dem Lob von Ingrid Beerbaum (zuerst erschienen auf Kunst+Film) ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass kleinliche Einwände, wie sie Pete Bradshaw vom Guardian geltend macht, vollständig an der Sache vorbeigehen. Besser trifft es da Peter Debruge in Variety.

Dank Manitas/Emilia rückt auch Rita (Zoe Saldana) ins Scheinwerfer-Licht. Foto: © Neue Visionen Filmverleih

In seinem neuen Filmepos probiert sich Jaques Audiard an einem für ihn neuen Genre aus, einem Drama mit Gesang, und das zum größten Teil auf Spanisch. Dass der Franzose trotz Sprachbarriere auch mit fremdsprachigen Schauspielern zusammenarbeiten kann, hat er bereits bewiesen: „Dämonen und Wunder“ (2015) war die Fluchtgeschichte einer tamilischen Scheinfamilie, der Neo-Western „The Sisters Brothers“ (2018) spielte in den USA.

Neues Leben als Frau

„Emilia Pérez“ beginnt dagegen in Mexiko City. Hier arbeitet die ehrgeizige Anwältin Rita (Zoe Zaldaña) als Angestellte einer Kanzlei. Ihre Aufgabe ist es vor allem, ihren Chef im Gerichtssaal gut aussehen zu lassen. Zu dessen Mandanten gehören allerdings auch Mörder und Drogenbarone, denen er Freisprüche verschafft, was der überqualifizierten und unterschätzten Rita ziemlich zusetzt. Ein unverhofftes Job-Angebot des Kartellbosses Manitas del Monte (Karla Sofia Gascón) könnte für sie ein Ausweg aus dieser Misere sein.

Rita soll Manitas helfen, ein völlig neues Leben zu beginnen. Er will aus dem Drogengeschäft aussteigen und seine Frau Jessi (Selena Gomez) mitsamt ihrer beiden Kinder in Sicherheit wissen. Und vor allem will er nun die Person werden, als die er sich innerlich schon immer gefühlt hat – eine Frau. All das soll Rita nun organisieren, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Sie macht sich mit derselben verbissenen Energie an die Arbeit, die sie bisher in ihre Plädoyers gesteckt hat.

Rückkehr nach Mexiko

Ihr Auftrag führt sie einmal um die ganze Welt. Nachdem Rita ihn ausgeführt hat, erlaubt ihr die fürstliche Entlohnung ein sorgenfreies Leben in London. Doch Jahre später meldet sich Manitas, der sich inzwischen in Emilia verwandelt hat, mit einem weiteren Anliegen – Emilia möchte ihre Kinder wieder um sich haben. Dafür zieht sie zurück nach Mexiko, wo sie sich einer neuen Aufgabe widmet: Sie gründet eine Organisation, um Opfer der Drogen-Kartelle zu finden und zu identifizieren – etliche Leichname sind anonym verscharrt worden, derweil ihre Angehörigen jahrelang nach ihnen suchen. Dennoch kann Emilia ihre eigene gewaltsame Vergangenheit als Manitas nicht ungeschehen machen; sie wird schließlich von ihr eingeholt.  

Wie viele der Filme von Regisseur Audiard kreist auch „Emilia Pérez“ um seine Grundmotive: gesellschaftliche Außenseiter und ihre Erfahrungen mit Gewalt. Zu Beginn schildert der Film zunächst Ritas subtile Diskriminierung durch die mexikanische Macho-Gesellschaft, die sie grollend erträgt. Auch Manitas Dasein als Kartellboss wird von Gewalt beherrscht; erst die Geschlechtsumwandlung lässt Emilia buchstäblich zu einem besseren, mitfühlenden Menschen werden. Ihre moralische Kehrtwende verleiht der Geschichte eine gesellschaftskritische Dimension, ohne dabei in Sozialkitsch abzurutschen.  

Eher Oper als Musical

Die Kinowerbung verspricht zwar ein Musical, doch im Grunde ist „Emilia Pérez“ große Oper: eine epische Handlung in mehreren Akten mit mitreißenden Arien der Hauptfiguren, durchzogen von einem Leitmotiv. Und zugleich ist die Musik ganz in der Gegenwart verwurzelt: Aus den Klängen von Straßenverkäufern, Waschmaschinen und elektronischen Geräten entsteht eine vielstimmige Melodie von Mexiko-Stadt.

Anstelle einer Liebesgeschichte wie in den meisten Musicals erwartet das Publikum ein handfestes Drama mit kritischem Impetus; quasi als zeitgenössische Variante der Opern im Verismo-Stil von 1890 bis 1920. Dabei gelingt es Audiard meisterhaft, überwältigende Gefühle in eine glaubwürdige Geschichte einzubetten.

Drei weibliche Hauptfiguren begehren gegen scheinbar unveränderliche Rahmenbedingungen ihrer Existenz auf. Angefangen bei Rita, mit deren Hilfe Manitas/Emilia sein ganzes Leben umkrempelt – selbst seine Ex-Frau Jessi macht eine Transformation durch. Sie wird vom fremdbestimmten Ehe-Anhängsel zur furchtlosen Rächerin, die notfalls auch zu Gewalt greift, um ihre Ziele zu erreichen.

Atemberaubende Gesangs- und Tanznummern

Die Männer bleiben dagegen Nebenfiguren; nur Jessis Liebhaber Gustavo (Edgar Ramirez) darf das große Finale heraufbeschwören, das an klassische Western erinnert. Dass Audiards Film eine derartige Wucht entfaltet, liegt vor allem an den drei herausragenden Hauptdarstellerinnen. Sie tragen nicht nur die Handlung, sondern brillieren auch in atemberaubenden Gesangs- und Tanz-Szenen; von intimen Solo-Nummern bis zu raumgreifenden Ensemble-Choreografien.   

Der Aufwand bei Ausstattung und Komparserie, den der Regisseur treibt, erinnert an die besten Zeiten des Kino-Musicals in den 1950er und 1960er Jahre – allerdings sehr modernisiert. Dabei empfiehlt sich, die teils spanische, teils englische Originalfassung anzusehen, weil nur in ihr die nahtlosen Übergänge von Dialogen und Gesang richtig zum Tragen kommt. Zudem schaffen die sinnesprallen Tanz-Szenen ein paar Atempausen mit Raum zum Reflektieren in einer Handlung, die streckenweise ungestüm voraneilt. Überdies sind alle Songs Ohrwürmer: Besser kann Kino kaum sein.

Emilia Pérez Regie: Jacques Audiard (130 Min. Frankreich 2024) mit: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez u. a.