Ein Jahr der Trauer nach dem Unfalltod seines erwachsenen Sohnes fasst Samid (Samid Idrisov) einen Plan: Er will seinen alten Filmprojektor aus Sowjetzeiten wieder in Betrieb nehmen und im Gemeindesaal Filme zeigen. Denn vor mehr als 30 Jahren war er als Filmvorführer ein angesehener Mann in seinem Dorf im nordaserbaidschanischen Bergland. Heute repariert er billige Fernseher, die aber wegen des schlechten Empfangs in der abgelegenen Gegend kein befriedigendes Bild liefern.

Filmvorführer Samid (Samid Idrisov) mit einem Freund auf der Jagd nach einer Internet-Verbindung. Foto: déjà-vu film

Kino als Institution und Politikum

In den frühen 1990er Jahren war das Kino in der Provinz eine Institution. Gern erinnern sich auch die anderen Alten des Dorfs an Filme, die sie damals gesehen haben. Sogar ihre Lieblingsfilmsongs können sie nach kurzem Nachsinnen noch singen. Die Szene, in der sie gemeinsam in gebrochenem Englisch Lieder aus dem US-Tanzfilm „Flashdance“ (Adrian Lyne, 1983) anstimmen, gehört zu den Momenten, in dem die oft dokumentarische Anmutung des Films einnehmende Komik entfaltet.

Zunächst hat selbst der Dorfvorsteher nichts gegen Samids Plan einzuwenden – vorausgesetzt, der zeigt keine anzüglichen, sondern nur erbauliche Filme. Auch die Dorffrauen sind gern bereit, ihren Teil beizutragen: Nach Samids Vorgaben nähen sie die neue Leinwand. Um an die großen alten Zeiten anzuschließen, benötigt Samid eigentlich nur noch eine Glühlampe für den Projektor.

Licht und Signale am Rand der Welt

Gemeinsam mit einem Freund, der einen Computer besitzt, versucht er, das Ersatzteil online zu bestellen. Ihre Jagd über die Bergkuppen nach einem Funksignal bei Kälte und Dunkelheit pendelt zwischen Lakonie und Slapstick und erfordert Samids ganze Überzeugungskraft. Danach beginnt das lange Warten auf die ersehnte Lieferung, das bald kafkaeske Züge annimmt.

In ruhigen Einstellungen verfolgt Regisseur Orkhan Aghazadeh in seinem ersten Spielfilm die Handlungen seiner liebenswert eigensinnigen Charaktere. Dabei fängt er in kunstvoll komponierten Bildern die verschiedenen Geschwindigkeiten ein, die das Leben in der Region prägen – vom Wechsel der Jahreszeiten in den Bergen bis zum Rhythmus des Umbaus einer postsowjetischen Metropole. Während Samid die meisten seiner Wege auf steilen Pfaden zu Fuß erledigt, erlauben das Internet und Social Media der jungen Generation, sich ein Bild der Welt außerhalb des begrenzten eigenen Umfelds zu machen.

Unterstützung durch die kommende Generation

Im Dorf ist das vor allem Samids Enkel Ayaz (Ayaz Khaligov), der ebenso filmbegeistert ist wie sein Großvater. Mit Hilfe aktueller Apps auf seinem Mobiltelefon ist der künstlerisch wie technisch begabte Junge in der Lage, eigene Filme zu animieren und zu schneiden. Mit ihnen will er sich für ein Filmstudium bewerben, aber er bekommt auch Gelegenheit, damit Samid zu unterstützen.

Der hat von einem ehemaligen Kollegen aus der Stadt einen indischen Spielfilm für den ersehnten ersten Kinoabend erhalten. Da bei dem Liebesmelodram allerdings der letzte Akt fehlt, beschließen Ayaz und Samid, diesen selbst nachzudrehen und machen sich gemeinsam ans Werk. Ihrer Zusammenarbeit gewinnt der Film eine ganze Reihe witziger und überraschender Momente ab – etwa, wenn sie die Werbekampagne für das bevorstehende Ereignis entwickeln und umsetzen.

Wiedrigkeiten und Beharrungsvermögen

Aber während sie weiterhin auf das Eintreffen der Projektorlampe warten, tun sich nach und nach weitere Schwierigkeiten auf: So gibt es bald Bedenken, dass der Liebesfilm vielleicht doch nicht ganz den Vorgaben der Sittenwächter entspricht. Zudem beginnt man im Dorf darüber zu spekulieren, ob Samid mit seinen Versprechungen nicht zu hoch gepokert hat. Ayaz soll wiederum mehr für die Schule tun, so dass der Filmvorführer mit dem Traum seines Comebacks bald wieder ziemlich allein dasteht.

Aus Samids Kampf gegen die widrigen Umstände entwickelt Aghazadehs Film eine leise, aber eindringliche Parabel auf die Situation der Menschen an den Rändern einer sich immer schneller wandelnden Welt. Sie kontrastiert den Bauboom in der Hauptstadt Baku, wo Samids Sohn auf einer der unzähligen Großbaustellen zu Tode kam, mit dem Leben in der Bergregion, das sich in Landschaft, Wetter und Tradition einbettet.

Entspannter Blick auf die Fährnisse der Welt

Sie findet aber auch Verbindungen zwischen den Technik-Innovationen unterschiedlicher Epochen und zeigt, wie jede Generation im Umgang mit den jeweiligen Medien die Fähigkeit entwickelt, die Phantasie Funken schlagen zu lassen. Vor allem aber zeigt sich ein entspannter Blick auf die Fährnisse der Welt. Gepaart mit der Gabe zur Improvisation lassen sich damit auch drohende Niederlagen abwenden.

Schließlich zeichnet sich ein gelungener Abend für alle nicht unbedingt dadurch aus, dass alles reibungslos gelingt, sondern dadurch, dass alle auf ihre Kosten kommen. So entwickelt sich das Kinoereignis am Ende ganz anders, als sich der Filmvorführer seine Rückkehr vorgestellt hat. Bei allem Naturalismus schließt dabei seine mit viel Humor erzählte Geschichte an die Schlitzohrigkeit der Erzähltradition von „Tausendundeine Nacht“ an. Am Ende kann sie sogar mit ihrer eigenen Wunderlampe aufwarten.

Ein weiteres Projektions-Wunder: „Anora“

Auch Sean Bakers „Anora“ weist eine gewisse Verwandtschaft mit Traditionen auf, die gern mit „Tausendundeine Nacht“ in Verbindung gebracht werden. Vor allem in der Trivialkultur und so genannten Erwachsenenunterhaltung. Auch in seinem neuen Film, der in Cannes in diesem Jahr die Goldene Palme gewann, widmet er sich ein weiteres Mal gesellschaftlichen Außenseitern und Extrempositionen. Wieder schlägt er aus einer relativ einfachen Geschichte märchenhafte Funken.

Anora (grandios: Mikey Madison), genannt Ani, ist Sexarbeiterin in einer New Yorker Lapdance-Bar. Hier lernt sie den durchgeknallten russischen Oligarchensohn Ivan (Mark Eydelshteyn) kennen, der sie nach einer ersten Nacht exklusiv für einen längeren Zeitraum bucht und schließlich auf einem gemeinsamen Trip nach Las Vegas sogar heiratet. Dabei hat er allerdings die Rechnung ohne seine Familie gemacht, die alles daran setzt, die entwürdigende Verbindung wieder rückgängig zu machen, kaum dass sie von ihr erfährt.

Alsbald überstürzen sich die Ereignisse, um sich zuletzt eben nicht wie im Märchen, zu dem sie hätten führen können, aufzulösen, sondern ganz und gar prosaisch. Denn um über den eigenen Schatten oder gar den von Milieu und Herkunft zu springen, ist Ivan nicht gemacht. Dafür zeigen sich bei den Vasallen, bei denen man es am wenigsten erwartet hätte, Empathiereserven, die darauf hoffen lassen, dass nicht alle für immer verloren sind. Großes emotionales Kino im besten Sinn!

Die Rückkehr des Filmvorführers, Regie: Orkhan Aghazadeh (87 Min.) mit Samid Idrisov, Ayaz Khaligov

Anora, Regie: Sean Baker (139 Min.) mit: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov