Rona (Saoirse Ronan) stammt von den Orkney-Inseln im Norden Schottlands. Der Abgeschiedenheit ihrer windgepeitschten Heimat hat die junge Frau vor etlichen Jahren den Rücken gekehrt und in London ein Studium der Meeresbiologie aufgenommen. Die Metropole bietet viel Ablenkung; trotz ihrer erblich bedingten bipolaren Disposition lässt Rona es hier ordentlich krachen.
Einmal in Feierlaune, kennt sie vor allem beim Alkohol keine Grenzen. So liegt bald alles, was sich sich aufgebaut hat, in Trümmern. Außer ihre Chancen im Studium zerstört ihre immer offensichtlichere Sucht auch die Beziehung zu ihrem Freund Daynin (Paapa Essiedu). Der ist, bei aller Geduld, Ronas über die Stränge schlagenden Hochgefühls-Momenten, denen regelmäßig Phasen tiefer Depression folgen, auf die Dauer nicht gewachsen.
Rekonvaleszenz auf der Insel
Erst als sie buchstäblich in der Gosse landet, beschließt Rona, sich in eine Entzugsklinik zu begeben. Anschließend zieht sie sich für die Rekonvaleszenz auf die Insel zurück, auf der sie aufgewachsen ist. In der von Ablenkungen freien Einsamkeit durchlebt sie erneut die Stadien ihres Absturzes. Ihre Erinnerungen verbinden sich mit der Geschichte ihrer Eltern, dem rauen Wetter und überlieferten Mythen der Orkneys zu einem delirierenden Ganzen.
Mit der Schilderung einer fatalen Alkoholsucht hat sich Regisseurin Nora Fingscheidt abermals ein sperriges Thema ausgesucht. „The Outrun“ ist ihr erster Kinofilm, seit sie mit „Systemsprenger“ beim Deutschen Filmpreis 2020 mit acht Auszeichnungen triumphierte. „Systemsprenger“ war ein Ausnahmefilm, der seinem Publikum in der Schilderung kindlich-hysterischen Ausrastens einiges zumutete. Es war vor allem dem Wechselspiel der Kinderdarstellerin Helena Zengel, die eine verhaltensauffällige Neunjährige verkörperte, und ihrem erwachsenen Kollegen Albrecht Schuch zu verdanken, dass kaum zu ertragende Schreiorgien am Ende doch zu großer Empathie führten.
Die Hauptdarstellerin als treibende Kraft
Bei „The Outrun“ kann sich Fingscheidt auf das überzeugende Spiel von Hauptdarstellerin Saoirse Ronan verlassen: Von reiner Ausgelassenheit bis zur Selbstzerstörung setzt sie Club-Exzesse in allen Facetten so überzeugend um wie später Phasen der Einkehr und der Sorge um sich und andere. Dann schmiegt sich die beeindruckend erhabene Landschaft der Orkneys um Gesicht und Gestalt der Protagonistin und verknüpft ihre Herkunft mit ihrem Seelenleben.
So gelingt es Regisseurin Fingscheidt, dass der Zuschauer trotz extremer Zustände, die vor Peinlichkeit kaum zu ertragen sind, an Rona und ihrem Schicksal interessiert bleibt und mit ihr mitleidet. Doch leider verlässt sich Fingscheidt nicht auf diese Trümpfe, sondern bürdet stattdessen der Handlung immer mehr Ballast auf. Da ist Ronas fromme Mutter, die ständig für ihre Tochter betet und sie damit zum Wahnsinn treibt. Außerdem muss sich Rona auch um ihren Vater kümmern, der ebenfalls an einer bipolaren Störung leidet.
Nebenhandlungen schwächen den Plot
Das ist alles nachvollziehbar, und jede Nebenhandlung hat durchaus interessante Momente. Doch die eigentliche Geschichte wird durch diese Seitenstränge geschwächt. Nach einer Weile zieht sich der Film in die Länge und verliert sein Ziel aus dem Auge. Was auch an der assoziativen Komposition liegt: Häufig springt die Erzählung zwischen verschiedenen Vergangenheitsebenen und der Gegenwart hin und her.
Das wirkt nicht immer dramaturgisch schlüssig. Vielmehr stellt sich das Gefühl ein, durch wiederholte Erinnerungen an den Exzess soll dem Publikum der Ernst der (Gefühls-) Lage auf didaktische Weise eingebläut werden. Um die legendäre Entstehung der Inseln zu illustrieren, setzt Fingscheidt auch noch eine animierte Sequenz ein. Das ist zwar witzig, doch als einmal auftauchendes Element, das folgenlos bleibt, wirkt es zu beliebig.
Auch ohne diese Spielerei gibt es bereits ausreichend unterschiedliche Bildebenen: Beispielsweise haben Ronas Zeichnungen von Flora und Fauna einen eigenen Reiz, der gar keiner Erweiterungen mehr bedurft hätte. So gibt es in diesem Film viel zu entdecken; einiges Augen öffnend, anderes redundant – und manches lässt sich vielleicht erst beim zweiten Anschauen entschlüsseln.
Zuerst erschienen auf Kunst und Film.
The Outrun Regie: Nora Fingscheidt (118 Min. Großbritannien/Deutschland 2024) mit: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane u. a.