Vögel, Insekten und überhaupt Tiere spielen in den Filmen von Andrea Arnold wichtige Rollen. In BIRD sind es insbesondere Möwen und Raben, zu denen die zwölfjährige Protagonistin Bailey (großartig: Nykiya Adams in ihrer ersten Filmrolle) Beziehungen pflegt. Geduldig lässt sich das bei allen alterstypischen Unsicherheiten in sich selbst ruhende Mädchen auf sie ein, und immer wieder wirkt es, als finde genau in diesen Begegnungen gelingende Kommunikation statt – jedenfalls eher als in der Interaktion mit den meisten Menschen aus ihrem Umfeld. Dessen Charaktere sind wahlweise von Euphorie, Panik oder Resignation geprägt und kreisen in erster Linie um sich selbst.

Bailey lebt zusammen mit ihrem noch jungen Vater Bug (Barry Keoghan) in einem besetzten Haus in Gravesend, einer Kleinstadt an der Themse unweit von London. Bug läuft meist mit freiem Oberkörper herum, ist bis zum Haaransatz tätowiert und überzeugt arbeitslos, vor allem aber guter Dinge. Denn zum einen will er heiraten, zum anderen hat er ein neues Geschäftsmodell entwickelt, das die Hochzeit wie das gesamte zukünftige Leben finanzieren soll. Aus dem Sekret einer tropischen Kröte, die er aus Colorado importiert hat und die viel Wärme und den richtigen Gesang braucht, um produktiv zu werden, will er eine halluzinogene Superdroge synthetisieren und teuer an die Partypeople der Gegend verkaufen. Mit den Bedürfnissen und Gewohnheiten dieser Klientel kennt er sich aus: Denn weggeschossen die Nächte durchzufeiern, entspricht durchaus seiner eigenen Vorstellung von einem gelungenen Leben. Da kann es allen ganz ernst gemeinten Beschwörungen von Liebe und Zusammengehörigkeit zum Trotz schon mal passieren, dass Bailey und ihre Ansprüche zurückstehen müssen.
Familien und Erscheinungen
Zur engeren Familie im von außen wie innen Graffiti übersäten Haus gehört auch Baileys älterer Halbbruder Hunter (Jason Buda). Beide sind sich nah, allerdings ist Hunter meist entweder mit seiner Freundin oder seiner Gang beschäftigt. Mit letzterer hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Typen, die andere schlecht behandeln, auszuspähen, maskiert zu überfallen und Clips dieser Bestrafungsaktionen auf Social Media zu verbreiten. Aber obwohl Bailey durchaus den Respekt seiner Kumpel genießt, lässt er sie nicht mitmachen – sie sei noch zu jung.
Baileys Mutter Peyton (Jasmine Jobson) lebt mit drei weiteren Halbgeschwistern Baileys und ihrem gewalttätigen neuen Freund Skate (James Nelson-Joyce) am anderen Ende der Stadt. Das Viertel wirkt heruntergekommen, in den Straßen dienen entsorgte Matratzen den Kindern als Orte zum Spielen. Hierher kommt Bailey in der Hauptsache, um ihre Nichten vor Skate zu beschützen und ihnen das Gefühl zu geben, dass da jemand ist, der sich um sie kümmert.
Zwischendurch zieht sie überwiegend allein durch den Ort und die ihn umgebende Landschaft. Aber obwohl alles um sie herum auf den ersten Blick nach Niedergang und Abstieg aussieht, findet die stets bewegte Handkamera zusammen mit der an allem interessierten Protagonistin immer wieder Gefallen an Details und unverhofften Begegnungen. Einmal wird Bailey, nachdem sie im Moor eingeschlafen ist, unverhofft zart von einem grasenden Pferd geweckt; kurz darauf lernt sie – ebenfalls inmitten der sich Teile des Stadtgebiets zurückerobernden Natur – den wunderlichen Bird (Franz Rogowski) kennen. Er trägt Röcke, schlägt Purzelbäume und spricht nur wenig, dafür aber mit einem starken deutschen Akzent.
Randgestalten
Völlig unverhofft landet er in Baileys Welt und scheint an ihr und ihrer grundsätzlichen Verunsicherung weitaus interessierter als alle anderen. Ob er ein wirklicher Freund ist, bleibt zunächst ungeklärt. Rogowski gibt ihn mit der ihm eigenen staksigen Körperlichkeit als Mischwesen, das wenig Erklärungen abgibt. Zwar sagt er, er habe selbst einmal in der Gegend gelebt und suche seinen Vater; andererseits wohnt er tatsächlich frei wie ein Vogel auf Dächern, erscheint und verschwindet wieder. Die vorsichtige Annäherung zwischen der früh erwachsen werdenden Hauptfigur und dem Sonderling jedenfalls entwickelt eine ganz eigene Magie.
Mit BIRD kehrt Filmemacherin Arnold dahin zurück, wo sie selbst aufgewachsen ist, ins ländliche England östlich des Metropolraums London. Ihre ersten sozialrealistischen Dramen sind hier entstanden, etwa der Oscar-prämierte Kurzfilm WESPEN (2003). Schon damals oszillierte Arnolds Schaffen zwischen Armutsdepression, Sehnsucht nach Liebe, mütterlichen Sorgen, Brutalität und Momenten von betörender Zugewandtheit. In FISH TANK (2009) erzählte sie spannungsvoll vom Aufwachsen ihrer 15-jährigen Heldin Mia inmitten auseinanderfallender Verhältnisse voll von Begehren und falschen Utopien. In vielen Einstellungen schließt BIRD nahtlos an diese Phase an; im Einsatz von aktueller Musik erinnert er aber auch an ihren ersten amerikanischen Film AMERICAN HONEY von 2016, bei dem der Soundtrack wesentlich zur Kraft der dieses Mal gutgelaunt bewegten Coming-of-Age-Geschichte beigetragen hat. Gleich zu Beginn von BIRD sind es nun die treibenden Beats der Fountaines D.C., zu denen Bailey und Bug auf dessen Elektroroller zusammen durch die bunte Misere ihrer Welt cruisen – wenn auch zunächst gegen Baileys Willen.
Nach mehreren weiteren Regiearbeiten für Serien sorgte Arnold zuletzt mit dem Dokumentarfilm COW (2021) für Furore. Empathisch zeichnete sie in ihm das Leben der Milchkuh Luma auf ihrem Bauernhof nach. Dabei versuchte sie, alle Stadien der Existenz des Tiers einzufangen, inklusive der zu ihnen gehörenden Emotionen, wofür die Kamera die meiste Zeit über praktisch Auge in Auge mit der Hauptdarstellerin agierte – ein immerhin vier Jahre in Anspruch nehmendes Experiment, das zu unternehmen sich gelohnt hat. Dafür sprechen nicht zuletzt die überdurchschnittlich hohen positiven Zustimmungsraten auf Filmbewertungsportalen wie Rotten Tomatoes.
Verschmelzen und Magie
Vieles, was am Oeuvre dieser Filmemacherin in Bann zieht, kommt in „Bird“ zu neuen Höhepunkten: das Verschmelzen von Neugier und Anteilnahme; der wache, hypersensible Sinn für die Umwelt und die kleinen Wunder, die sich den Umständen zum Trotz ständig in ihr ereignen; der Naturalismus, der im Zusammenspiel von Neuentdeckungen wie Adams und Buda als Jugendlichen und etablierten Charakterdarstellern auf der Höhe ihrer Fähigkeiten Funken schlägt: Neben Rogowski besticht dieses Mal besonders der durch Yorgos Lanthimos‘ THE KILLING OF A SACRED DEER (2017) und Emerald Fennells SALTBURN (2023) bekannt gewordene Keoghan als Bug.
Neu ist im aktuellen Werk, dass die Magie nicht mehr nur zwischen den Zeilen beziehungsweise den Höhe- und Wendepunkten der Handlung entsteht. Mit dem Auftauchen der titelgebenden Figur des Bird nutzt Arnold erstmals ganz explizit auch Elemente eines magischen Realismus, wobei sie lang in der Schwebe lässt, wie sehr er das Zusammenspiel von Chaos, Wut und Schönheit aus Licht, Musik und Zuwendung überhöhen wird. Bis zum Schluss hält sie verschiedene Lesarten offen. Doch auch darin, dass sie immer wieder Neues riskiert, bleibt sich Arnold in BIRD treu. Und wie im großen Ganzen ihrer Karriere fügt sich auch im neuen Film viel mehr atemberaubend gut zusammen, als sich mit Worten beschreiben lässt.
BIRD, Regie: Andrea Arnold (Großbritannien 2024. 119 min) mit Nykiya Adams, Franz Rogowski, Barry Keoghan u. a.