Mit einem Bruder wie diesem braucht man keine Feinde: Seine Version des UNTER BRÜDERN-Themas inszeniert Regisseur Damian John Harper im Ruhrgebiet zur Wendezeit atmosphärisch dicht, drogen- und gewaltlastig sowie genretypisch düster – manche Mitmenschen sind einfach wandelnde Zeitbomben.

Familienbande sind immer emotionsgeladen, bisweilen sogar explosiv. Insbesondere, wenn die Familie auf wenig mehr als einen einzigen Bruder zusammengeschrumpft ist. Der auch noch behauptet, immer für einen da gewesen zu sein. Von klein auf, sagt er, habe man sich als Apachen gemeinsam gegen den Rest der Welt gestellt. Oder stimmt diese kindliche Winnetou- und Wildwest-Romantik gar nicht, und der ältere Bruder Mirko (Franz Pätzold) hat den jüngeren Kai (Louis Hofmann) stets für seine eigennützigen Zwecke missbraucht?

Kai (Louis Hofmann) und sein Onkel Andi (Sascha Geršak) arbeiten in einer Fleischverarbeitung im Ruhrgebiet. Foto: © Port au Prince Pictures / Weydemann Bros

Harper siedelt sein hochstilisiertes Brüder- und Kleinkriminellen-Drama der härteren Gangart im Ruhrgebiet an. Es enthält Gewaltszenen, die für sensible Gemüter sicher nicht geeignet sind: Ab der ersten Einstellung an setzt die Regie alles daran, den Film genretypisch düster aussehen zu lassen.

Nächtliche Straßen im Regen und verkorkste Familienbande

Folgerichtig spielt die Handlung zumeist nachts in heruntergekommenen Wohngebieten, auf Gewerbehöfen und verwaistem Straßenland. Vor gelbem Laternenlicht regnet es in Strömen, als Kai im Auto den Auftrag von Mirko annimmt, der endgültig nicht nur ihre Gemeinsamkeit, sondern auch sein Selbstbild auf die Probe stellen wird.

Als vergleichsweise heile Parallelwelt erweist sich da die Fleischverarbeitungs-Fabrik, in der Kai als Mittzwanziger gemeinsam mit seinem Onkel Andy (Sascha Geršak) arbeitet. Ihr Alltag ist blutig und anstrengend, aber die Belegschaft hält zusammen – eine weitere Großfamilie mit eigenen Fallstricken und Überraschungen. Andy hat sich auf jeden Fall immer um schon um Kai gekümmert; nach dem Tod ihrer Mutter hat er ihn und Mirko bei sich aufgenommen.

Doch gegen Mirkos grundsätzliche und stets gewaltbereite Feindseligkeit ist Andy nie angekommen – so ist er Kai auch jetzt keine wirkliche Hilfe. Getrieben von Kais innerem Monolog, einer etwas märchenonkelhaften Erzählstimme, und durch eine teils arg verschlungene Handlung mit vielen Zeitsprüngen entwickelt sich allmählich dessen Dilemma.

Mirko ist wieder da

Am Tag, an dem die Story in den 1990er Jahren einsetzt, wird Mirko vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Dort landete er, weil er von Kai verraten worden war. Nicht aus Bosheit, sondern weil der sich nicht anders zu helfen wusste, wovon Mirko keinen Schimmer hat. Dennoch ahnt Kai, dass große Schwierigkeiten auf ihn zukommen.

Sein Verdacht ist begründet: Immerhin hat Mirko, bevor er in den Knast einfuhr, ihm viel Geld zur Aufbewahrung anvertraut. Doch Kais Lohn aus der Fleischfabrik reicht nicht aus, um die Wünsche seiner Frau Ayse (Canan Kir) und ihrer gemeinsamen Tochter zu erfüllen; also hat er den größten Teil der Summe ausgegeben, die Mirko ihm überantwortete – und nun keinen Plan, wie er es wiederbeschaffen soll.

Sicher ist nur: Mirko nimmt sich stets, was er will. Wenn er es nicht bekommt, sucht er nach Ersatz; das wird meist schmerzhaft. In Sicherheit wäre Kai nur, wenn Mirko tot wäre. Aber daran will er keinen Gedanken verschwenden; schließlich ist Mirko immer noch sein Bruder.

Bis Ayse ihrem Mann ein Ultimatum stellt: Kai solle sich entscheiden – für sie und ihr Kind. Also willigt er ein, Mirko mithilfe seines alten Freundes Selo (Zejhun Demirov), der mittlerweile für die Polizei arbeitet, eine Falle zu stellen. Doch die schnappt nicht zu wie geplant; kurze Zeit später steht Mirko vor der Tür und will Vergeltung.

Achterbahnfahrt der Affekte und konfuses Finale

Vorlage für FRISCH ist der gleichnamige Roman von Mark McNay, der in der abgehängten britischen Peripherie spielt. Es gelingt dem Regisseur mit seinem eigenen Drehbuch, dessen Atmosphäre von Ausweglosigkeit in die dunkleren Ecken Westdeutschlands zur Wendezeit zu übertragen; auch dank überzeugender Darsteller. Drogenkonsum und -handel, Sportwetten und eine noch recht junge Hiphop-Kultur, die im Soundtrack neben Gunter-Gabriel-Schlagercountry-Romantik und treibenden Beats zu hören ist, prägen die Stimmung.

Dazu kommt Kais Glaube, als (Bluts-)Bruder in guten wie in schlechten Zeiten mit Mirko den vorgezeichneten Weg bis ans Ende gehen zu müssen – wie er es aus Karl-May-Verfilmungen der 1970er Jahre kennt. Nach dem Vorbild von zynisch-mörderischen Thrillern der 1990er Jahre wie TRUE ROMANCE oder ROMEO IS BLEEDING (beide 1993) reizt der Regisseur die Achterbahnfahrt der Affekte zwischen brutaler Gewalt und Hoffnung auf Rettung voll aus.

Allerdings kann sich Harper am Ende offenbar nicht entscheiden, wohin das alles führen soll. So entlässt FRISCH den Zuschauer zwar aufgerüttelt durch die drastische Darstellung, aber mit mehr Fragen als Gewissheiten darüber, was real sein soll und was bloße Einbildung.

FRISCH (Deutschland 2024, 98 min.) Regie: Damian John Harper mit: Louis Hofmann, Franz Pätzold, Sascha Geršak u. a.

Zuerst erschienen auf Kunst + Film.