1. A Young Man With High Potential
Hm. Eingeladen von Forgotten Film Entertainment zur Pressevorführung von „A Young Man With High Potential“. Ins Soho House, ausgerechnet, das im abgelegenen Torstraßenwinkel immer noch eine Welt für sich ist. Allerdings eine, die sich im Lauf der Jahre mehr und mehr bevölkert hat. Geld und globalisiertes Kultur-Biz-Publikum haben auch die einstige „simple things“-billig-Freiheits-Stadt Berlin erreicht. Aber das hat sich herumgesprochen.
Also zum Thema. Nachdem der Trailer ein bisschen sehr auf Film mit Anspruch, der dann ins Splatterfach umschlägt, gemacht hat, fällt bei kompletter Betrachtung von „A Young Man With High Potential“, der beim Filmfest München im vergangenen Jahr mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet wurde, zunächst die unaufgeregte Inszenierung von Regisseur Linus de Paoli auf. Insgesamt wirkt die Geschichte vom isolierten Informatikgenie, das jeden Kontakt mit anderen Menschen scheut, nur von zu Hause aus arbeitet und sich alles via Internet-Bestellung in die Wohnung liefern lässt, bis eine hartnäckige Kommilitonin ihn zur Zusammenarbeit zwingt und damit eine Kette insbesondere für sie schlecht ausgehender Entwicklungen in Gang setzt, in ihrer zurückgenommen modernen Gestaltung jederzeit nachvollziehbar.
Die Besetzung mit einem durchweg unverbraucht-glaubhaften Cast, das durch Amanda Plummers Präsenz in der Rahmenhandlung geadelt wird, unterstützt die Wirkung der Echtheit, die der Film erzeugen will. Vielleicht steht das Setting einer gesichtslos funktionalen Elite-Universität irgendwo in Europa ein wenig stark im Vordergrund; vielleicht wird das Prototypische der erzählten Geschichte ein ums andere Mal ein wenig zu sehr in den Fokus gerückt, indem immer wieder auf soziale Entfremdung und sich aus den Möglichkeiten des Digitalen ergebende moralische Dilemmata unserer Zeit hingewiesen wird. Aber wie auch immer: Die Story funktioniert. Und sie hat etwas über die Welt, die in ihr programmierte Gewalt sowie Täter und Opfer zu erzählen.
Gleichzeitig scheint eine Erzählung darüber, wie als „unfickbar“ denunzierte Männlichkeit quasi aus Versehen zu Vergewaltigung, Mord und Vertuschung schreitet, gerade zur rechten Zeit zu kommen; immerhin ist der Aufbruch, den #meetoo im Filmbusiness für ein Aufbegehren gegen sexistisch überformte Hierarchien bedeutet hat, noch deutlich zu spüren. Und eine Beschäftigung mit Strukturen, die zu Gewalt führen, scheint immer erforderlich.
Dennoch hinterlässt „A Young Man With High Potential“, der immer – äußerst erfolgreich – um Augenhöhe mit seinem Protagonisten bemüht ist, einen schalen Nachgeschmack. Zu sehr entschuldigt er zuletzt eben genau durch seine präzise Einbettung aller Handlungen in nachvollziehbare Zufälle – nicht er gibt ihr den KO-Cocktail, sie trinkt ihn von sich aus etc. – den Gang der Dinge. Und auch wenn dadurch bewusst gezeigt werden soll, wie unser Umgang mit Technik und unsere Integration in sich unsichtbar machende Machtgefüge dazu führt, dass wir Entscheidungen immer mehr auslagern, statt sie willentlich zu treffen und dadurch in moralischen Sackgassen enden, ist die vom Film beschworene Identifizierung mit dem Täter dann doch genau das My zu stark, als dass man ihn beispielsweise Opfern ähnlich hässlicher Umstände anzusehen empfehlen würde.
„A Young Man With High Potential“, Deutschland 2018, Regie: Linus de Paoli, mit Adam Ild Rohweder, Paulina Galazka, Amanda Plummer u. a. (86 min). Kinostart 7.3.2019
2. White Boy Rick – Sackgasse True Crime
Detroit in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist kein heimeliger Ort. Die Industriebrachen und Eigenheime aus besseren Zeiten wirken gleichermaßen schäbig. Kälte und Regen wechseln einander ab, kaum jemand ist auf den schlecht beleuchteten Straßen unterwegs. Außer der Flucht in Drogen, die Roller-Disco oder den – illusorischen – Traum, doch noch mit der einen guten Idee den Aufstieg zu schaffen und wegzukommen, gibt es wenig Hoffnung und noch weniger Möglichkeiten.
Dieses Setting hat bereits für die unterschiedlichsten Genres vom White-Trash-Hip-Hop-Drama bis zum existenzialistischen Vampirfilm hergehalten; nun nutzt es Yann Demange, der 2014 mit seinem Debut „71“, einem Drama über den Nordirlandkonflikt, im Wettbewerb der Berlinale vertreten war, um den Fall des White Boy Rick zu erzählen.
Das tut er zunächst als Milieustudie, die mit der Neuentdeckung Richie Merritt an der Seite von Matthew McConaughey als seinem Vater stimmig besetzt ist. Darüber hinaus hat die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte des Richard „Ricky“ Wershe Jr. durchaus tragisches Potenzial. Mit vierzehn wird Ricky als angeblich jüngster Informant vom FBI angeworben, um nach wenigen Jahren und einer Karriere als Drogendealer in Eigenregie geopfert und für Jahrzehnte eingesperrt zu werden. An der Schnittstelle zwischen Familie, Verbrechen und Staat entfaltet das Drama so seine destruktive Wirkung, wo es wirklich weh tun könnte: in der psychischen Konstitution eines Heranwachsenden, der weit davon entfernt ist, seinen Platz im Leben gefunden zu haben.
Von Beginn an ist Rickys Welt vielfach gespalten. Auf der einen Seite ist da die kaputte Familie, mit der er sich auseinandersetzen muss. Seit dem Verschwinden der Mutter ist sie auf den Vater Richard Sr., die Schwester Dawn (Bel Powley) und ihn selbst zusammengeschrumpft. Während Dawn bereits an die grassierende so genannte Crack-Epidemie verloren scheint – Nancy Reagans Anti-Drogen-Kampf befindet sich unter dem Slogan „Just Say No“ bis hinein in die Wohnzimmer auf dem ideologischen Höhepunkt – bemüht sich Richard Sr. darum, die Reste ihrer Gemeinschaft durch Beschwörungen und schiefe Gleichnisse zusammenzuhalten. Nicht gerade hilfreich ist dabei, dass er seinen Traum, irgendwann zum Videoketten-Eigentümer aufzusteigen, mit halbkriminellen Waffengeschäften verwirklichen will. Dafür muss er sich von Dawn vor ihrem Auszug zum Drogendealerfreund denn auch als Loser beschimpfen lassen, ohne ihrem Zorn etwas entgegensetzten zu können.
Auf der anderen Seite gibt es die afroamerikanische Community. Für Ricky wirkt sie mit ihrer Musik- und Gangsterkultur allemal anziehender als das eigene Umfeld; dass ihre Platzhirsche ihr Einkommen überwiegend aus Drogengeschäften beziehen, stellt für ihn unter den gegebenen Bedingungen kein größeres Problem dar, sondern höchstens den hinzunehmenden Tribut an die schlechte Realität.
Mit aufgepeppten MPs seines Vaters und seinem ganzen zusammengenommenen Mut gelingt es Ricky, die Bandenchefs Leo “Big Man” Curry (Rapper YG) und Johnny “Lil Man” Curry (Jonathan Majors) von sich einzunehmen und mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Von nun an bewegt er sich mit wachsender Lässigkeit zwischen dem coolen Milieu, das ihn überraschend freundlich aufnimmt, und seinem Zuhause hin und her.
Das Problem ist nur, dass noch eine dritte Partei im Spiel ist: die Cops vom FBI (unter Führung von Jennifer Jason Leigh), die genau die Drogengeschäfte der Currys mit ihren Kontakten bis zum Bürgermeister mit allen Mitteln zerschlagen wollen. Dafür lauern sie Ricky auf und zwingen ihn, die neuen Freunde zu bespitzeln und in die Falle zu locken. Den hierfür nötigen Druck bauen sie über belastendes Material auf, dass sie gegen seinen Vater in der Hand haben. Dass der white boy auf ihr Spiel eingeht, ist so verständlich wie sein Widerwille gegen den erzwungenen Verrat.
Dann allerdings hört es mit der Nachvollziehbarkeit schnell auf. Zu unklar bleibt, wie Ricky aus dem Nichts dazu kommt, seine FBI-finanzierte Rolle als zunächst Drogenkäufer und dann Dealer in einer Community, in der alles Unbekannte mit Misstrauen beäugt wird, durchzusetzen und glaubhaft zu machen. Anstatt Motivationen und die für den Gang der Tragödie entscheidende Zwangsläufigkeit herauszuarbeiten, verlässt sich der Film zu einfach auf schon zu häufig gesehene Stereotype. Etwa auf das vom kollektiven Gangsteraufstieg mit dazugehörigem Geprotze in Las Vegas. Plausibel ist, dass Ricky, nachdem das FBI zuschlägt, schnell enttarnt und – fürs Erste – aus dem Weg geräumt wird; nur behauptet hingegen bleiben sein Wiedereinstieg in die Szene ohne FBI-Unterstützung und der daran anschließende Erfolg als Dealer.
Selbstverständlich mag es sein, dass sich der Wechsel zwischen eigenem Jugendzimmer und Designapartment-Couch der Frau (Taylor Paige) des gerade eingeknasteten Obergangsters Johnny Curry für Ricky ebenfalls verrückt unwirklich anfühlt – dass der Film es nicht für erforderlich hält, zu klären, was die coole Schöne an dem blassen Jungen findet und wie sie dazu kommt, eine Affäre mit ihm anzufangen, ist jedenfalls symptomatisch für sein Setzen auf schillernde Oberflächen, ohne weiter in die zugrundeliegenden Details zu gehen.
Zu wenig scheint Demange zu wissen, wohin er eigentlich will und wie er sich positionieren soll. Wie sie hier dargeboten wird, drückt die Erzählung vom unfertigen Jugendlichen, der zwischen uneinholbaren Träumen und deprimierenden Realitäten von staatlichen Instanzen ausgenutzt und schließlich fahrlässig zerstört wird, vor allem auf die Tränendrüse, statt soziale Verhältnisse plausibel zu machen.
„White Boy Rick“, USA 2018, Regie: Yann Demange, mit Richie Merritt, Matthew McConaughey, Bel Powley u. a. (111 min). Kinostart 7.3.2019