Nach seinem Ausflug in Steampunk und Blockbusterkino mit „Poor Things“ enfaltet Yorgos Lanthimos aktuelles Triptychon „Kinds of Kindness“ mit zum Teil übereinstimmender Besetzung eine Dreifaltigkeit aus Einsamkeit, Verlorenheit und falschem Glauben. Dabei kehrt der Regisseur, der einst die Greek Weird Wave mitbegründete, zu den Anfängen seines Schaffens zurück.

Robert (Jesse Plemons) im Bett mit Übervater Raymond (Willem Dafoe) und seiner Frau Vivian (Margaret Qualley). Foto: © 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved

Geschenke in der gedämmten Welt

Robert (Jesse Plemons) fährt einen SUV und hält sich meist in den klimatisierten Büroetagen und pompösen Villen der amerikanischen Oberschicht auf. Mit seiner Frau Sarah (Hong Chau) bewohnt er selbst ein geräumiges freistehendes Haus in einer durchgrünten Suburb. Der Ton in diesem Milieu ist floskelhaft höflich, jede Bewegung eigentümlich bedächtig. Alles umgebender Luxus dämmt die Geräusche der Realität und tränkt die Welt wie bei David Lynch in gespenstischer Gesichtslosigkeit.

Roberts Chef Raymond (Willem Dafoe) scheint dem Paar zugetan und schickt als Geschenke ausgefallene Sport-Devotionalien. Etwa einen Tennisschläger, den John McEnroe in einem seiner berühmten Tobsuchtsanfälle zerschmettert hat. Doch die ganze Extravaganz ist daran gebunden, dass Robert zu einhundert Prozent abhängig von Raymond ist. Jeden Tag erhält er von ihm eine Auflistung all der Dinge, die er den Tag über zu tun hat – bis zur minutiösen Planung von Liebesleben und Speisenfolgen.

Wirklich bewusst wird Robert diese Asymmetrie erst, als er sich eines Tages weigert, einen von Raymonds Aufträgen auszuführen. Dabei geht es darum, dass er zu einer festgelegten Zeit an einer vorgegebenen Kreuzung ein bestimmtes Auto rammen soll. Das hat er zwar bereits getan, allerdings nicht zur vollen Zufriedenheit seines Chefs. Der fordert ihn daher auf, den Hergang noch einmal entschiedener zu wiederholen. Da Robert jedoch Skrupel hat, den anderen Fahrer zu töten, verweigert er Raymond diesen Wunsch. Daraufhin entzieht sein Gönner ihm die Zuwendung.

Gewohnheiten und die Rückkehr zu den Wurzeln

Von nun an ist Robert auf sich selbst gestellt. Statt die Gelegenheit zu nutzen, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen, leidet er unter dem Liebesentzug und ist komplett überfordert, eigene Entscheidungen zu treffen. Das beginnt mit Fragen wie der danach, ob er in der Bar Rot- oder Weißwein bestellen soll, und hört beim angemessenen Verhalten Sarah gegenüber noch lange nicht auf. Ohne Raymonds Anleitung wird Robert mit dem Leben nicht fertig. Also beschließt er, alles zu tun, um die Zuwendung des geliebten liebenden Übervaters zurückzugewinnen.

„Kinds of Kindness“, der aktuelle Film von Yorgos Lanthimos, feierte im Mai im Wettbewerb von Cannes seine Premiere – nur ein halbes Jahr nachdem der Vorgänger „Poor Things“ (2023) mit weitgehend identischer Besetzung den Hauptpreis der Filmfestspiele von Venedig gewinnen konnte. Nach der zuletzt erreichten gradlinigen Leichtigkeit kehrt der Regisseur und Autor zu den surreal-psychologischen Experimentieranordnungen seiner Anfänge in der von ihm mitbegründeten Greek Weird Wave um 2010 zurück. Dabei zeigt sich von der ersten Minute an, welche Freiheiten ihm die Kassen- und Kritikererfolge von „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ (2018) und vor allem „Poor Things“ beschert haben.

Bereits über die Logos der Produktionsfirmen legt er statt der zugehörigen Fanfaren den quietschigen Hit „Sweet Dreams (Are Made of This)“ des britischen Synthiepop-Duos Eurythmics aus dem Jahr 1983. Dessen Zeilen, die davon handeln, woraus süße Träume gemacht sind und wie sie die Träumenden benutzen beziehungsweise missbrauchen oder sich von ihnen benutzen und missbrauchen lassen, bilden die Ouvertüre zu allem, was folgt. Und das ist nach den zwar ebenfalls streckenweise deftigen, aber immer mitreißenden Abenteuern der von Emma Stone verkörperten Bella Baxter aus der sexpositiven Steam-Punk-Befreiungsutopie wieder deutlich sperrigere cineastische Kost.

Dafür hat Lanthimos zum fünften Mal mit dem Drehbuchautoren Efthimis Filippou zusammengearbeitet. Filippou ist der Mann, der sich die absurden Szenarios ausdenkt, denen der Regisseur seinen Ruf verdankt: „Dogthooth“ (2009), „Alpen“ (2011), „The Lobster“ (2015) und „The Killing of a Sacred Deer“ (2017). Während der Arbeit sei ihnen das Projekt, wie Lanthimos im Presseheft verrät, zum Triptychon geraten, nicht zuletzt, weil ihnen ein Episodenfilm „komplexer und ansprechender“ erschien als eine einzelne Erzählung.

Auf den oben geschilderten Eröffnungssteil folgen so zwei weitere auf den ersten Blick von ihm unabhängige Episoden. Zusammengehalten werden alle drei durch eine gemeinsame Grundstimmung, ein Set verwandter Themen sowie einen ominösen Charakter namens R. M. F. (Yorgos Stefanakos). Der hat keinen Text, fungiert aber für alle drei Teile als Titelgeber. Nichts von alldem trägt dazu bei, den Film insgesamt leichter vermarkt- oder erklärbar zu machen. Doch genau das scheint zu sein, worauf Lanthimos aus ist: mehr Experiment, mehr Zumutung für die Zuschauer.

Eine filmische Logik des (Alp-)Traumhaften

Auf die erste knappe Stunde unter dem Titel „The Death of R. M. F.“ folgen die Episoden „R. M. F. is Flying“ und „R. M. F. Eats a Sandwich“. In ersterer leidet der Polizist Daniel (wieder gespielt von Plemons) darunter, dass seine Frau Liz, eine Forscherin (verkörpert von Emma Stone, die in der ersten Episode erst spät und nur in einer Nebenrolle auftaucht), verunglückt ist. Als sie schließlich doch wieder zu ihm nach Hause zurückkehrt, erkennt er sie nicht wieder. Er versteift sich darauf, dass sie nicht echt, sondern eine Art Replika ist und fordert zunehmend blutigere Liebes- und Echtheitsbeweise von ihr, um diesen Zweifel auszuräumen.

Das abschließende Kapitel „R. M. F. Eats a Sandwich“ gehört dann ganz Stone, die als Emily für eine Sekte Mann und Kind verlassen hat und nun mit ihrem Kollegen Andrew (Plemons) auf der Suche nach einer Heilsbringerin ist – alles im Dienste des väterlichen Gurus Omi (Dafoe) und seiner Frau Aka (Chau). Wieder geht es um Fragen des Übergangs von Vertrauen und Geborgenheit zu Macht, Missbrauch und Abhängigkeit. Alle drei Episoden werden getragen durch das grandiose Spiel der immer wieder auftretenden Darsteller, die sich für ihre neuen Rollen einerseits in Maske und Garderobe, wesentlicher aber den jeweils aufgerufenen Energielevels unterscheiden. Obwohl die Themen, um die die Plots kreisen, verwandt sind und einander zu spiegeln scheinen, sorgen sich stetig steigernde – häufig extreme und bisweilen extrem unappetitliche – Einfälle dafür, dass der Gang der Dinge kaum einmal vorherzusehen ist. Eine stringente Ästhetik, die von reduziert dissonanten Klaviermotiven und dichten Chorarrangements von Jerskin Fendriks, der auch die Musik für „Poor Things“ geschrieben hat, über die charakteristisch leicht verzerrten anamorphotischen Breitformatbilder von Kameramann Robbie Ryan getragen wird, erzeugt einen filmischen Raum, der einerseits in seiner baulichen Normalität vertraut erscheint. Andererseits haftet ihm in seiner Austauschbarkeit – Lanthimos sagt, es sollte der Eindruck erreicht werden, der Film spiele irgendwo in Amerika – eine Atmosphäre an, die wie die schablonenhafte Sprache beständig lauernde Untiefen erwarten lässt.

Auch wenn der Film mit seinen drei auserzählten Episoden insgesamt um einiges zu ausufernd geraten ist, langweilt er im Verlauf an keiner Stelle. Immer ist er auf der Suche nach dem, wie es Stones Charakter Emily einmal formuliert, „Moment der Wahrheit“. Der wird zwar – soviel darf hier schon verraten werden – nie erreicht. Andererseits reicht für die Fesselung der Aufmerksamkeit die stete Verheißung darauf, dass er dann doch wundervoll sein könnte.

Mit Sicherheit wirft „Kinds of Kindness“ zuletzt mehr Fragen auf, als er beantworten kann. Vielleicht überhebt sich Lanthimos beim Einlösen der filmemacherischen Credits, die er mit „Poor Things“ gewonnen hat, auch etwas und schließt an der ein oder anderen Stelle zu leichtfertig allzu bekannte Stereotype surrealer Psychologie-Ausdeutungen mit systemischen Machtverhältnissen kurz. In jedem Fall aber gelingt es ihm wie derzeit kaum einem anderen Auteur, existenzielle Verunsicherungen in eine (alp-)traumhafte filmische Logik zu integrieren und damit – bei allen Zumutungen – zu unterhalten.

Kinds of Kindness, Regie: Yorgos Lanthimos (164 min) mit Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Margaret Qualley u. a.