Endlich läuft sie an, Julian Radlmaiers maxistische Vampierkomödie „Blutsauger“. Hier geht’s zur Besprechung. Und auch hier. An dieser Stelle nur so viel: Auch und gerade in düsteren Zeiten schafft gekonnt eingesetzter künstlerischer Eigensinn – ob in der Musik, im Roman oder eben im Film – die direktesten Verbindungen in mögliche andere Welten. Ohne dabei auf Analyse und Kritik zu verzichten, versteht sich. Und, wie in diesem Fall, mit sehr speziellem Humor.

Blutsauger und persönlicher Assistent Foto: © Grandfilm
Blutsauger und persönlicher Assistent. Foto: © Grandfilm

Vampire, Faulheit, Kino und Faschismus

Ein Vampir geht um. Seine Opfer werden mit blutenden Wunden meist halbtot aufgefunden. Was steckt dahinter? Das fragt sich auch eine Gruppe Arbeiterinnen und Arbeiter, die in einem Sommer zwischen den Weltkriegen am Ostseestrand sitzt und Karl Marx studiert. Im „Kapital“ hofft das lesende Proletariat Erklärungen für die mysteriösen Bissmale der matt dahinvegetierenden Genossen zu finden. „Aber Marx sagt ja schon explizit, dass der Kapitalist Blut saugt!“, sind sich Rosa (Darja Lewin Chalem) und Bruno (Bruno Derksen) einig. Die illustre Marx-Lesegruppe diskutiert. Einigen Mitgliedern erscheint die schöne Fabrikbesitzerin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) verdächtig, die die Sommermonate mit ihrem Diener am Meer verbringt. Ist sie der Blutsauger, der in der Gegend sein Unwesen treibt? Andere Genossinnen und Genossen wiegeln ab. Marx meinte das doch wohl eher metaphorisch. Und schräg ist die antisemitisch konnotierte Metapher noch dazu.

Tropen wörtlich nehmen, Widersprüche unaufgelöst lassen

Dennoch greift Regisseur Julian Radlmaier den von Marx gewählten Vergleich bereitwillig auf, um ihn ganz wörtlich zu nehmen. Den darin enthaltenen Kurzschluss macht er zum erzählerischen Fundament seines Films BLUTSAUGER (D 2021), den er im Titelzusatz eine „marxistischen Vampirkomödie“ nennt. Mit dem Stilmittel, Tropen eins zu eins umzusetzen, gelingt es ihm, im Normalfall mit einigem Aufwand verdunkelte Abhängigkeiten ins gleißende Licht der Projektion zu rücken. Gleichzeitig eröffnet diese Form der Re-Markierung den Weg, so unterschiedliche Genres wie den Revolutions- mit dem Vampirfilm zusammenzubringen – eine Mixtur, aus der sich erstaunliches erzählerisches Kapital schlagen lässt.

Ein ähnliches Vorgehen hat sich bereits beim Vorgängerprojekt SELBSTKRITIK EINES BÜRGERLICHEN HUNDES (D 2017), Radlmaiers Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), bewährt. Denn obwohl SELBSTKRITIK genauso wenig Konzessionen an den vermuteten Geschmack des Mainstreampublikums macht wie BLUTSAUGER, ist die märchenhafte Komödie über die Suche eines wenig erfolgreichen Filmemachers nach Sex und wahrem Kommunismus, in der der heilige Franz von Assisi bei der Apfelernte hilft, bei der Filmkritik auf viel Zuspruch gestoßen. Radlmaier spielt sich als Julian, den Autor und Regisseur von „ästhetisch-politisch radikalem Zeug“, selbst; da man damit in Deutschland aber keine Karriere machen kann, wird er vom Jobcenter in die brandenburgische Provinz zur Apfelernte geschickt, bis irgendwann die nächsten Fördergelder kommen. Im Niedriglohnsektor vermutet er Anknüpfungspunkte für die Revolution; einer ihn begleitenden Frau, in die er sich beim Besuch der Gemäldegalerie spontan verliebt und der er in Aussicht gestellt hat, sie könne eine Rolle in seinem nächsten Film spielen, versucht er, seinen Arbeitseinsatz als Undercover-Studie zu den hier herrschenden Hierarchien zu verkaufen. Allerdings kommt sie bald zu dem Schluss, dass er für einen „communist filmmaker“ ein ziemliches Arschloch ist.

Dann ergibt sich durch den überraschenden Tod der Plantagenbesitzerin die Chance auf neue Organisationsformen von Arbeit und Verteilung. Aber auch bei der nun Wirklichkeit werdenden Neuordnung der Verhältnisse kann sich Julian mit seinen Thesen über die Unmöglichkeit eines richtigen Lebens im Falschen als linker Hipster gegen bolschewistisch geschulte und vor allem kraftvollere Proleten nicht durchsetzen. Also nimmt er seinen Rollkoffer und zieht weiter. Dennoch gelangt er mit seinem irgendwie doch entstandenen Film nach einigen magischen Wendungen, einem gewissen Anteil an Slapstick, Musik und vielen schönen Bildern in leuchtenden Farben zum Schluss aufs Filmfest nach Venedig. Weil sich aber selbst dort im Publikumsgespräch die Widersprüche seiner revolutionär-bourgeoisen Existenz nicht auflösen lassen, verwandelt er sich zuletzt in den edlen Vierbeiner aus seinem Filmtitel.

Arbeit, Muße, Utopie

Die von der Marxexegese der Lesegruppe theoretisch gerahmte Handlung von „Blutsauger“ setzt, wie eine Schrifteinblendung über einem Ostseewellenbild verrät, an „einem Dienstag im August 1928“ ein. Ein die Wellen durchschneidender Kitesurfer macht jedoch sogleich klar, dass dem kein 20er-Jahre-Kostümfilm folgen wird, wie er spätestens seit dem Serienerfolg von BABYLON BERLIN  im Trend der Zeit liegt. Zwar ist das Konzept, historisch grundierte Stoffe in gegenwärtigen Szenerien anzusiedeln und so Spannung zwischen erzählter Zeit und aktuellen Bildern zu erzeugen unter anderem mit Christian Petzolds Migrantendrama TRANSIT (D/F 2018) und Dominik Grafs FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE (D 2021) durchaus auch vorher schon im deutschen Kino angekommen; durch ihrem gestalterischen Einfallsreichtum setzt sich die marxistische Vampirkomödie jedoch noch einmal deutlich von anderen Reflexionen über das Weiterwirken der Geschichte in die Gegenwart ab. Lange Einstellungen, ausgefeilte Darsteller-Choreografien von zum Teil großer Komik und Bild-Tableaus in beinah naiv anmutender Schönheit schaffen die ästhetischen Bedingungen, um die Erfahrung der postrevolutionären Ernüchterung der Stalin-Zeit und das Aufkommen des Faschismus produktiv mit einem neuem Nachdenken über das Verhältnis von Arbeit, Freizeit und Muße zu verknüpfen, das Radlmaier schon in seinen früheren Filmen beschäftigt hat.

In drei Kapiteln mit je eigenen Erzählern und Temperamenten entfaltet sich die Erzählung: Der Sowjetbürger Ljowuschka (Alexandre Koberidze) ist Schauspieler aus Faulheit. An Filmdrehs liebt er vor allem die langen Umbaupausen, während derer man so herrlich die Gedanken schweifen lassen kann. Durch eine verrückte Verkettung von Umständen ist er vom Großfilmemacher Eisenstein als Trotzki-Darsteller für den Revolutionsfilm „Oktober“ gecastet worden. Da jedoch Trotzki noch während der Dreharbeiten bei Stalin in Ungnade fällt, wird die Rolle aus dem Film herausgeschnitten und auch Ljowuschka als ihr Darsteller wird gesellschaftlich gebannt. Also beschließt er, sein Glück in Hollywood zu suchen.

Auf seinem Weg strandet er in einem mondänen deutschen Badeort, gerät ins Visier der exzentrischen Octavia und wird unter dem Druck der Umstände erst zum Lügenbaron und dann – als Opfer des kommunistischen Terrorregimes und verfolgter Künstler – zum Objekt ihrer Begierde. Dadurch gerät er in Konkurrenz zu Octavias ungeschickt in seine Herrin verliebten Diener Jakob (Alexander Herbst), und aus dem Umstand, dass Vampire die Gegend tyrannisieren, ergeben sich weiteren Konfliktlinien und Anlässe für Beargwöhnungen und Schuldzuweisungen. Dennoch gelingt es dem Trio, gemeinsam einige Filmszenen zu drehen, die Ljowuschkas Talent unter Beweis stellen sollen.

In akkurat eingerichteten Einstellungen sprechen die Figuren über die Utopie einer Versöhnung von Kunst und Leben. Angelehnt an den bisweilen plakativen Witz früher Woody-Allen-Filme, etwa in LOVE AND DEATH/DIE LETZTE NACHT DES BORIS GRUSCHENKO (F/USA 1975), wird das Fortbestehen von Hierarchien und Vorurteilen aufgezeigt. Dennoch sind die blutsaugende Ausbeuterin Octavia, der künstlerische Opportunist Ljowuschka und Jakob, den Octavia gemäß den Gepflogenheiten ihres US-amerikanisch geprägten Lebensstils als „persönlichen Assistenten“ bezeichnet und der sich selbst nach der Lektüre Prousts als Schriftsteller imaginiert, nicht nur Vertreter ihrer jeweiligen Klasse, sondern ausgesprochen ambivalente Charaktere.

Subversion muss man sich leisten können

Während sich die vampirhafte Kapitalistin aufgrund ihrer Stellung und der ihr entgegengebrachten Bewunderung einen Hang zum Subversiven leisten und kokett mit sozialistischen Vorstellungen flirten kann, führt Ljowuschkas eher tollpatschiges Bemühen, aus allem mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen für das eigene Fortkommen zu ziehen, am Ende zu nicht wieder gutzumachendem Verrat. Seine Anbiederung an die dauerfeiernden Bourgeoisie auf stetiger Suche nach dem nächsten Spektakel führt geradewegs ins Verderben. Doch auch die solidarische Haltung der Kapital-Lesegruppe kippt unter der Bedrohung durch die unerklärliche Vampirplage bald ins Völkische. Statt sich an Marx zu halten, wendet sich das Proletariat den einfältigen Polizeikräften des Ortes zu.

Es kommt, wie es kommen muss. Die Furcht vor dem äußeren Feind schweißt die Ungleichen zusammen und macht blind für die eigentliche Gefahr, den Faschismus. Der fordert sogleich erste Opfer, und es ist ausgerechnet Ljowuschkas zuvor für ihre befreiende Wirkung gefeierte Filmkunst, die aktiv zur Auswahl der Verdächtigen beiträgt und sie zu Verfolgten macht. Von der Wunschmaschine degradiert das Kino so in wenigen Szenen zum Propagandainstrument und Mitschuldigem.


Überschuss des Realen, Optimismus des Willens

Hatte Radlmaier für SELBSTKRITIK EINES BÜRGERLICHEN HUNDES den Cast noch wesentlich aus dem eigenen Umfeld rekrutiert, treten in BLUTSAUGER mit Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Andreas Döhler neben den Laiendarstellern erstmals auch in größerem Umfang nicht nur professionelle, sondern zumindest in Deutschland als Stars gehandelte Schauspieler auf. Ihnen gibt Radlmaier aufgrund ihrer Fähigkeit, stets die erforderliche Performance abzurufen, die Rollen der Ausbeuter und Vampire, denen es durch kalkuliertes Auftreten ein Leichtes ist, den Gang der Dinge in ihrem Sinne zu lenken. Formale Kraft zieht die marxistische Vampirkomödie auch hier aus dem Aufeinanderprallen der verschiedenen Welten. Denn während die Top-Liga-Mimen Drive und Esprit verströmen, zeigt Markus Koobs Kamera, deren Stilwille bereits die vorherigen Radlmaier-Filme prägte, die Gesichter der Laiendarsteller häufig in den Fluss der Erzählung unterbrechenden statischen Nahaufnahmen, in denen sie ihre Texte deutlich weniger geschliffen sprechen. So entsteht aus der Überblendung von Rolle und Darsteller ein Überschuss, der an Andy Warhols SCREEN TESTS (USA 1964-66) erinnert, die für dreißig Sekunden unbewegt die Züge der Abgebildeten festhalten und dabei jede noch so kleine Zuckung zum Erlebnis machen.

BLUTSAUGER strotzt vor Fabulierlust und erhellendem Humor, denkt aber auch auf hohem Niveau über die Möglichkeiten des Mediums nach. Im Gegensatz etwa zum bei aller stilistischen Extravaganzen von existenzieller Schwere geprägten Kino Bruno Dumots lässt sich von Radlmaiers Vorgehen, das Theorie und Komik kunstvoll verzahnt, sagen, es folge der Losung Antonio Gramscis: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“ (Antonio Gramsci. Gefängnishefte. Hamburg 1991–2002. S. 2232) Aufgabe des Kinos könnte so sein, die Schrecken der Geschichte nicht auszublenden, sondern sie zum Tanz zu fordern. Denn nur, wer sich von der Verfinsterung der Verhältnisse nicht irre machen lässt, kann das utopische Fernziel im Auge behalten, das aktuell nur die vampirische Octavia und ihresgleichen für sich reklamieren können, obwohl es doch für alle gelten sollte: „Das Leben muss ganz aus Muße und Liebe bestehen, aus Poesie und Abenteuer, sonst ist es keinen Pfifferling wert!“

BLUTSAUGER (Deutschland 2021, 125 min.) Buch und Regie: Julian Radlmaier mit: Alexandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch u. a.