„Rodeo“, der Debutfilm der französischen Regisseurin Lola Quivoron, rückt seinem Publikum von der ersten Einstellung an auf den Leib. Eine junge Frau, Julia (Julie Ledru) ist verzweifelt. Ihr, wie man später schlussfolgern kann, vermutlich selbst gestohlenes Motorrad wurde gestohlen. Handgreiflich streitet sie nun mit ihrem von ihrer Fixierung genervtem Bruder und jedem, der ihr in die Quere kommt. Sie schubst, drängelt, bettelt und schlägt, bis sie endlich, zuletzt gegen Bezahlung, ihr Ziel erreicht: Ihr Bruder ruft den Inserenten einer weiteren Crossmaschine an und vereinbart einen Besichtigungstermin für sie. Julia wirft sich in Schale, gibt sich beim Termin zunächst höflich und interessiert, ohne dabei jedoch an Hartnäckigkeit zu verlieren – und ist wenig später mit dem erbeuteten Gefährt auf und davon. Für kurze Zeit kann sie sich beseelt dem Freiheits- und Geschwindigkeitsrausch hingeben. Dann geht der Sprit aus, und sie muss schieben.
Immersion und Trostlosigkeit
War das Kino in seiner klassischen Phase durch eine Grammatik aus Totalen, Halbtotalen und Nahaufnahmen geprägt, bei denen die Totalen dazu dienten, Überblick über Orte und Situationen zu geben, überwiegen im Actionbereich des aktuellen Mainstream, aber auch bei Fernsehformaten wie dem Tatort, wenn sie sich ästhetisch zeitgemäß geben wollen, häufig Groß- und Nahaufnahmen. Statt um Orientierung geht es um Unmittelbarkeit und Überwältigung. Die Bilder sollen Zuschauer:innen direkt in die Handlung hineinziehen, sie den Schocks und Überraschungen aussetzen, die auch auf die Beteiligten wirken, und so Identifikation mit ihnen erzeugen. Während der ambitioniertere aktuelle Autorenfilm gegen dieses Prinzip der Immersion vermehrt auf beobachtende statische oder nur leicht bewegte Totalen setzt, wird die Kamera bei Lola Quivoron und ihrem Kameramann Raphaël Vandenbussche zunächst ganz zum in die Handlung einbezogenen Akteur. Während der Rangeleien Julias und ihrer Umwelt bleibt sie immer ganz nah an der hitzköpfig impulsiven Protagonistin, umkreist sie und hat doch Mühe, die junge Frau mit ihrem fanatischen Motoren-, Freiheits- und Bewegungsdrang im Bild zu halten, aus dem sie wie aus den sie umgebenden Verhältnissen beständig auszubrechen trachtet. Erst als sie mit ihrer gestohlenen Maschine auf der Straße und die Flucht wenigstens für kurze Zeit gelungen ist, werden die Bilder weiter, kommt auch die Kamera in ein gleichmäßigeres Schweben.
Zumindest in der ersten Hälfte des Films dient diese Art der Stilisierung ganz dem Eintauchen in Julias (Traum-)Welt. Gegen die perspektivlose Eintönigkeit der Vorstädte von Bordeaux träumt sie davon, sich in der männerdominierten Parallelwelt der Rodeos einen Namen zu machen. Dabei handelt es sich um illegale Treffen jugendlicher Biker und Geschwindigkeitsfanatiker, bei denen sich Fahrer an entlegenen Orten Wettkämpfe um die wagemutigsten Stunts liefern. Lang ausgefahrene Wheelies – also Fahrten nur auf dem Hinterrad – bei hohen Drehzahlen sind hier nur der Auftakt für stetig weiter getriebene Akrobatik, wahre Könner der Szene verschmelzen im Idealfall mit ihren Maschinen zur sensationsheischenden Einheit. In der Realität der französischen Suburbs ist es nach Medienberichten in den vergangenen Jahren bei dieser Art, sich die Langeweile zu vertreiben, immer wieder zu gefährlichen Unfällen mit Toten und Verletzten gekommen. Nicht zuletzt, weil zu den Leidtragenden auch Unbeteiligte und Kinder zählten, kündigte die Polizei ein hartes Durchgreifen mit langen Haftstrafen für Beteiligte an, ohne das Phänomen allerdings wirksam einhegen zu können.
Bei den B-Mores
Als Julia mit ihrer vergleichsweise kleinen Maschine bei einem dieser Rodeos auftaucht und sich in die Parade der lärmenden Jungmänner einreiht, offenbart sich zum ersten Mal die Diskrepanz zwischen ihren Wünschen und der Realität der Benzin und Testosteron getriebenen Subkultur. Aufgrund ihrer wenig ausgeprägten fahrerischen Fähigkeiten ist sie den anderen vor allem im Weg und als Frau schnell Stein des Anstoßes, dem einige der Fahrer mit unverhohlener Aggression begegnen. Zudem ist sie tatsächlich ständig auf Hilfe angewiesen und muss etwa Treibstoff schnorren, wobei sie sich in ihrer überheblich unbedingten Art ebenfalls kaum Freunde macht. Dennoch nimmt sich mit Abra (Dave Nsaman) einer der Platzhirsche ihrer an und bringt ihr erste Tricks bei. Als er wenig später während einer hektischen Flucht vor der anrückenden Polizei stürzt, kommt es zu einem der wenigen Momente, in denen die sonst stoisch mit verschlossenem Ausdruck um sich und ihren Vorteil kreisende Julia Gefühle offenbart und versucht, dem Verletzten beizustehen.
Einerseits bringt das gemeinsam Erlebte Julia näher an die Crew der B-Mores heran. Mit Kaïs (Yannis Lafki), der von ihrer burschikos rauen Art offensichtlich fasziniert ist, gelingt es ihr sogar, einen Verbündeten in deren inneren Kreis zu gewinnen. Ihm trotzt sie auch die Erlaubnis ab, im Clubhaus, der Garage des aus dem Gefängnis die Fäden ziehenden Paten Domino (Sébastien Schroeder), in der die Gang unter anderem geklaute Bikes umlackiert und mit neuen Nummernschildern versieht, zu übernachten. Doch am nächsten Tag ist Abra tot, Julia hat entgegen aller Absprachen in seinem Bett geschlafen, und die Laune in und ums Bandenhauptquartier ist am Boden. Um sich dennoch an ihrem gerade erst eroberten Platz zu halten, muss Julia, die sonst keinen Ort hat, an den sie freiwillig zurückkehren würde, ihre gesamte kriminelle Energie einsetzen, um sich Domino und seinem Gefolge anzudienen. Je mehr ihr das gelingt und je mehr sie innerhalb der Hackordnung der B-Mores aufsteigt, desto gewalttätiger werden aber auch die Angriffe auf sie. Und so zeichnet sich immer deutlicher ab, was eigentlich von Anfang an klar ist: Diese Geschichte kann kaum gut ausgehen.
Authentizität, Reggaeton und Schwächen im Abgang
Mit Julie Ledru hat Quivoron die Hauptrolle ihres Films mit einer Laienschauspielerin aus dem Umfeld tatsächlicher Rodeos besetzt. Ihr zurückgenommenes Spiel mit meist verschlossener Mimik und dafür umso beredterer Körperlichkeit modelliert nuancenreich eine zähe junge Frau, die bereit ist, sich ihren Platz in einer Männerwelt mit Beharrlichkeit und Mut zur Auseinandersetzung zu ertrotzen. Das wirkt als Charakterstudie wie als Erkundung eines abseitig prekären Milieus absolut überzeugend. Auch eine Nebenhandlung, in der sich eine tiefe Verbundenheit zu Ophélie (Antonia Buresie, die zusammen mit Quivoron am Drehbuch gearbeitet hat), der Frau von Domino, und ihrem Sohn Kylian (Cody Schroeder) ergibt, meistert Ledru mit Bravour und zeigt eine gänzlich andere, verletzliche und anteilnehmende Seite des von ihr verkörperten Charakters. Auch hier kommt Julias Freiheitsdrang voll zur Entfaltung, diesmal allerdings nicht selbstbezogen, sondern vielmehr in Form tiefempfundener Solidarität, da sie es nicht mitansehen kann, wie das Kind und seine Mutter den Gepflogenheiten machistischer Subkulturen folgend benutzt und eingesperrt werden.
Gerade aufgrund der kantigen Ungewöhnlichkeit seiner Hauptfigur, der Stimmigkeit auch des restlichen ebenfalls zu großen Teilen aus der Szene gecasteten Figurenensembles sowie der tollen verlangsamten und metallisch verfremdeten Post-Reggaeton-Sounds des Musikproduzenten Kelman Duran ist es dann allerdings umso bedauerlicher, dass „Rodeo“ im dritten und letzten Akt vom hypernaturalistischen Drama um Anerkennung zunächst in ein Heistmovie im Stil der „Fast and Furious“-Reihe kippt, um zuletzt in allzu plattem Symbolismus zu enden. Statt eines tatsächlich großen Films wird das gebeutelte und durchgerüttelte Publikum so aber immer noch mit tollen Ansätzen und der Hoffnung auf weitere mitreißende Kinoabende belohnt.
Rodeo, Regie: Lola Quivoron (110 min) mit Julie Ledru, Yannis Lafki u. a. Kinostart: 13.7.23