Von der ersten Minute an weiß man nicht so recht, was man von dieser Protagonistin halten soll. Sandra (Sandra Hüller) ist eine erfolgreiche Autorin. Mit ihrem Mann Samuel (Samuel Theis) und dem gemeinsamen elfjährigen Sohn Daniel (Milo Machado Graner) lebt sie zurückgezogen in einem Chalet in den französischen Alpen. An einem etwas konfusen Tag hat sie Besuch einer Studentin, die sie interviewen möchte. Während Daniel mit seinem Hund Snoop beschäftigt ist, kommt das Gespräch der beiden Frauen nicht recht in Gang. Statt auf die Frage einzugehen, ob sie etwas immer erst selbst erleben müsse, um dann darüber schreiben zu können, stellt die offensichtlich gelangweilte Autorin Gegenfragen und gibt vor, sich für die Studentin und ihr Erleben zu interessieren. Sie bietet Wein an und schenkt sich selbst nach, während von oben, wo Samuel am Ausbau des Hauses arbeitet, laute Musik ertönt. Die im Loop laufende Instrumentalversion von 50 Cents Zuhälterhymne „P.I.M.P.“ erschwert das Interview zusätzlich, und nach kurzer Zeit bricht Sandra es ganz ab. Also geht die Studentin, und Daniel verschwindet ebenfalls nach draußen, wo er mit Snoop eine Runde dreht. Als er zurückkommt, findet er seinen Vater tot im eigenen Blut vor dem Haus liegen.

Die Leiche und die Angehörigen © Bild: LesFilmsPelleas LesFilmsDePierre

Da nicht klar ist, ob es sich um einen Unfall, einen Selbstmord oder gar um Mord handelt, nimmt die Polizei umgehend Ermittlungen auf. Noch bevor Sandra und Daniel die Geschehnisse irgendwie verarbeiten können, werden sie befragt, und mit Hilfe einer Puppe wird versucht, den Fall von Samuels Körper aus der Höhe des Dachgeschosses zu rekonstruieren.

Goldene Palme für die Suche nach den Gründen eines Absturzes

Wie der Titel andeutet, ist Justine Triets „Anatomie eines Falls“, der in diesem Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewann, jedoch nicht nur an diesem freien Falls eines Körpers interessiert. Ebenso bezieht er sich auf Otto Premingers Gerichtsfilm-Klassiker „Anatomie eines Mordes“ von 1959, und etwa zwei Drittel des Films spielen vor Gericht. In der Verhandlung, die ein Jahr nach Samuels Tod eröffnet wird, versucht die Staatsanwaltschaft Sandra nachzuweisen, dass sie ihren Mann getötet hat, während sie selbst und ihr Verteidiger Vincent (Swann Arlaud) auf unschuldig plädieren. Dennoch geht es Triet nicht in erster Linie um die Spannung, die aus der Aufklärung der Tatsachen und der Frage nach der vermeintlichen Täterschaft entsteht. Viel mehr beginnt der hier geschilderte Absturz schon viel früher, nämlich auf der Höhe des einstmals gemeinsam empfundenen Glücks eines Schriftstellerpaares, das sich über Höhen und Tiefen seiner Beziehung emotional zusehends voneinander entfernt hat.

Mit jedem neuen Blick auf die gemeinsame Vergangenheit, die sich im Prozess ergibt, weitet sich der Film so zu einem Ehe- und Familiendrama und geht der Frage nach, wie sich Kreativität und gemeinsames Leben miteinander vereinbaren lassen. Wer muss für die Anforderungen, die Familie und Zusammenleben stellen, bei der eigenen Entfaltung zurückstecken? Wie weit dürfen die gemeinsamen Erfahrungen in die eigene Arbeit eingebaut oder gar zu ihrer Grundlage gemacht werden? Was sagen die im Werk veröffentlichten Momentaufnahmen und Urteile über die Realität einer tatsächlich geführten Beziehung und der daran Beteiligten aus? Immer mehr geraten so Sandras Texte und das Bild, das sie darin von ihrem Umfeld, aber auch von sich selbst und ihren Einstellungen zeichnet, in den Fokus der Auseinandersetzungen. Hat sie etwa ihren Mann ausgenutzt und sich seine Ideen angeeignet, weshalb er sich nicht – wie Vincent beweisen möchte – selbst umbringen, sondern im Gegenteil von ihr befreien wollte? Oder musste sie umgekehrt viel mehr für Samuel aufgeben, den nach ihrer Lesart Schwächeren mit der Schreibblockade, zum Beispiel indem sie ihm an den Ort seiner Herkunft gefolgt ist? Immerhin bedeutet das zurückgezogene Leben in den französischen Bergen nur für sie den Verzicht auf die Muttersprache und damit ihr künstlerisches Medium. In London, wo sie zuvor gelebt haben, hatten sie sich ganz selbstverständlich auf Englisch als Verkehrssprache geeinigt, ein Kompromiss, der beiden Partnern gleichviel abverlangte.

Schwierigkeiten mit der Wahrheit

Schnell zeigt sich, wie sehr Sandras anfängliches Vertrauen, der Fall werde sich schnell und praktisch von allein in ihrem Sinne klären, sie trügt. Dass es von zwei verschiedenen Sachverständigen relativ zu Beginn der Verhandlung zwei diametral gegensätzliche Analysen zu Samuels Sturz selbst gibt, ist da noch die geringste Herausforderung für Gericht und Publikum. Denn immer wieder tauchen Indizien auf, die ein ganz neues Licht auf das Zusammenleben des Schriftstellerpaares werfen. Doch jede neue Lesart erweist sich, je eindringlicher sie befragt wird, als zunehmend abhängig von Interpretationen. So geht Triets Film über seinen Kriminalfilmplot auch insofern hinaus, als er zeigt, wie fragil das Konzept von Wahrheit nicht nur in Zeiten von Fake News und MeToo-Debatten, sondern seinem Wesen nach ist.

Mit den Antworten auf die Frage, wieso sein Vater sterben musste und ob seine Mutter vielleicht die Mörderin ist, muss sich auch Daniel immer weiter befassen. Der Junge, der seit einem frühkindlichen Unfall sehbehindert ist, rückt im Laufe des Films immer mehr in dessen Zentrum. Er wohnt dem gesamten Prozess bei, wird mehrmals als Zeuge befragt und verwehrt sich in einem flammenden Plädoyer dagegen, dass die Richterin ihn gegen Ende zu seinem eigenen Schutz ausschließen will. Er besteht darauf, ein Recht zu haben, alles in allen Einzelheiten zu hören, da es anderenfalls viel schwieriger für ihn wäre, mit den bestehenden Fragen zu leben beziehungsweise selbst Antworten auf sie zu finden. Denn wie das Publikum kann auch Daniel nicht wirklich sicher sein, was zwischen seinen Eltern und am Todestag des Vaters geschehen ist. Milo Machado Graner, der erst spät im Prozess der Drehvorbereitungen für die Rolle des Daniel gefunden wurde, füllt diese zwischen dem Ringen um Selbstbeherrschung, verständlicher Verzweiflung über den Verlust des Vaters und die wachsenden Zweifel an der emotionalen Wahrhaftigkeit der Mutter beeindruckend aus. Unter seiner eigenen Suche nach Erklärungen hat in einem absurden Experiment dann irgendwann ausgerechnet sein geliebter Snoop zu leiden, der ihm doch als einziger beständig Orientierung und Halt bietet.

Die Frau, auf die sich alle einigen

Die Rolle der Sandra, die in ihrem Glauben, alles unter Kontrolle zu haben, erst allmählich mitbekommt, wie sich die Umstände gegen sie und ihr Kind wenden, hat Triet Sandra Hüller auf den Leib geschrieben. Diese ist damit nicht nur im laufenden Kinojahr nach „Sisi & Ich“ von Frauke Finsterwalder und Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ bereits im dritten – zumindest auf Festivals – vielbeachteten Film zu sehen, sondern insgesamt die Charakterdarstellerin, auf die sich alle einigen können. Auch hier gelingt es ihr, die von ihr gespielte Figur glaubhaft vielschichtig zu gestalten; mal erscheint sie als überheblich und selbstbezogen, dann wieder möchte sie auf keinen Fall, dass schlechtes Licht auf ihren toten Ehemann fällt, auch wenn das ihrer Position im Verfahren durchaus helfen würde. Sowohl die Fürsorge für Daniel als auch eine Haltung, die ganz Komplexität und Aufrichtigkeit verpflichtet scheint, machen ihre Sandra aus. Und dennoch bleibt immer ein Rest von Unsicherheit, wozu diese Frau mit den vielen Gesichtern im Stande sein könnte. Bis ganz zum Schluss hält der Film seinen Fragen in der Schwebe. Dass die Antwort zuletzt vielleicht vor allem darin besteht, dass die Wahrheit immer auch in den Bedürfnissen der nach ihr Suchenden liegt, macht ihn zu einem Erlebnis, das die gut zweieinhalb Stunden im Kinosaal noch lang überdauert.

Anatomie eines Falls, Regie: Justine Triet (151 min) mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner u. a.