Beim ersten Film ohne seinen Bruder Joel greift Ethan Coen stilistisch aufs gemeinsame Frühwerk zurück, dem er eine Prise Sexploitation-Kino der 70er und viel Klamauk beimischt. Allerdings mutet sein Jungsblick auf ein lesbisches Pärchen auf verquaste Art schlüpfrig an.
Jamie (Margaret Qualley) und Marian (Geraldine Viswanathan) sind Freundinnen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Verbringt die freigeistige Jamie ihre Tage und Nächte in der Hauptsache damit, sich sexuell auszuleben und ihre Liebesabenteuer zu koordinieren, arbeitet Marian in hochgeschlossener Bluse und stets auf korrekte Sprache bedacht in einem langweiligen Büro und erwehrt sich der unbeholfenen Avancen männlicher Kollegen. Um der Tristesse ihres einsamen Alltags im Philadelphia des Jahres 1999 entfliehen zu können, beschließt sie, sich beim Besuch einer Tante in Florida neu zu erfinden. Jamie, die wegen ihrer ständigen Eskapaden von ihrer Partnerin Sukie (Beanie Feldstein) vor die Tür gesetzt wurde, lädt sich kurzerhand selbst als Begleiterin ein.
Roadtrip mit MacGuffin
Um Geld zu sparen, beschließt das Duo, einen Leihwagen in den Süden des Landes zu überführen. Durch ein Versehen des Vermittlers Curlie (Bill Camp) bekommen die Freundinnen ein Gefährt zugeteilt, das für ganz andere Kunden bestimmt war und in den Tiefen seines Kofferraums eine geheimnisvolle Fracht birgt. Beim Roadtrip durch den Bible Belt wird sie zum handlungstreibenden Motiv. Ein typischer „MacGuffin“ also, der, wie Hitchcock in Bezug auf solch rätselhafte Objekte ausführte, die besondere Neugier des Publikums wecken soll. Die Fracht in „Drive-Away Dolls“ ist zugleich eine Reminiszenz an einen der bekanntesten MacGuffins der Filmgeschichte: den Koffer, um dessen Inhalt sich bei „Pulp Fiction“ (1994) alles dreht.
Kaum sind Jamie und Marian auf der Piste, werden sie von ein paar Gangstern gejagt, die sich weder durch Intellekt noch Feingefühl auszeichnen und vor wenig zurückschrecken. Ganz besonders nicht davor, auch groteske Formen von Gewalt anzuwenden. Bis die Mädchen, deren Vorstellungen von der gemeinsamen Reise zunächst ebenso gegensätzlich sind wie ihre Kommunikationsgewohnheiten, überhaupt merken, dass sie verfolgt werden, vergeht reichlich Zeit. Genutzt wird sie für sich im Kreis drehende, das Leben und den Habitus des jeweiligen Gegenübers thematisierende Gespräche sowie für libidinösen oder drastisch brutalen Slapstick allerorten. Aber auch für eine beginnende romantische Annäherung.
„Drive-Away Dolls“ ist – nach einer Dokumentation über Jerry Lee Lewis – das Solo-Regiedebüt von Ethan Coen mit einem großen Spielfilm; gemeinsam mit seinem Bruder Joel hat er zahlreiche Klassiker des US-amerikanischen Independent-Kinos geschaffen. Darunter sind Filme wie „Fargo“ (1995), „The Big Lebowski“ (1998) oder „No Country for Old Men“ (2007). Eine herausragende Arbeit der beiden Regisseure, die inzwischen getrennte Wege gehen, ist auch die schwarze Komödie „A Serious Man“ (2009), in der ein Mitglied der jüdischen Gemeinde im mittleren Westen einer Reihe alttestamentarisch anmutender Prüfungen ausgesetzt ist. In der 2014 begonnenen Fernsehserie „Fargo“, die auf Basis des gleichnamigen Spielfilms entwickelt wurde, fungieren die Brüder gemeinsam als ausführende Produzenten.
Getrennte Wege, gegensätzliche Richtungen
Statt mit Bruder Joel arbeitet Ethan nun mit seiner Ehefrau, Tricia Cooke, zusammen. Sie ist bei „Drive-Away Dolls“ als Co-Autorin mit von der Partie, die eigene Erfahrungen in der Queer-Szene der neunziger Jahre in das Projekt eingebracht haben soll.
Auffällig ist, dass die Brüder bei ihren Soloprojekten völlig entgegengesetzte Wege einschlagen haben. Joel Coens „The Tragedy of Macbeth“ (2021) verlässt sich ganz auf Shakespeares Text und legt damit die Matrix des Coen’schen Œuvres offen, in dem es stets um den Untergang sich überschätzender Protagonisten in schicksalshaften Verstrickungen geht. Der für einen Streaming-Dienst produzierte und nur kurz im Kino gezeigte Film verschafft dem Shakespeare’schen Text durch ein Feuerwerk von formgebenden Ideen ganz neue Dimensionen und festigt Joel Coens Ruf als innovativer Regisseur.
Ethan Coens seit etwa sieben Jahren angekündigter und immer wieder verschobener Film wirkt im Vergleich dazu wie eine Rückbesinnung auf das, was das Kino der Brüder gerade in der Anfangszeit ausgemacht hat. Das beginnt mit der eröffnenden Nahaufnahme des Barnamens „Cicero“ in zuckender Neonschrift (eine Verbeugung vor den hochkulturell grundierten Witzeleien früherer Filme) und akkurat geraden Kamerafahrten durch die enge Bar und in hartkontrastigem Licht liegende Straßenschluchten.
Gleich das erste Zusammentreffen von Akteuren, dem vor Angst schlotternden „Sammler“ Santos (Pedro Pascal) und einem feindseligen Kellner, der sich alsbald als sein Mörder entpuppt, mündet in eine Verfolgungsjagd zu Fuß in einer Sackgasse, in der es zum ersten Gemetzel kommt. Durch diese Exposition ist stilistisch der Ton vorgegeben. Es scheint, als habe Coen, was Kameraführung und Schnitttechnik betrifft, die Backlist der Brüder geplündert. So erzeugt „Drive-Away Dolls“ durchgängig eine Coen-typische Atmosphäre zwischen Lakonie und Hysterie, die durch eindeutig sexuelle Inhalte und die queere Szenerie modernisiert wird.
Eine verschenkte Idee
Vor allem die reichlich skurrilen Dialoge und das Aufeinanderprallen von albernen und äußerst gewalttätigen Momenten sollen für eine Achterbahnfahrt der Gefühle sorgen. Doch selbst die Einführung einer sich anbahnenden Liebesgeschichte, die im Coen-Universum eine echte Neuerung darstellt, verschafft dem Film nicht das Gewicht, das er bräuchte, um die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Zu deutlich scheint alles aus recycelten Motiven zusammengesetzt, als dass man sich ernsthaft darauf einlassen wollte.
Da helfen in diesem Fall weder die Leistungen der beiden Hauptdarstellerinnen noch die wie immer bis in die kleinsten Nebenrollen exzellenten weiteren Darsteller oder der späte Auftritt Matt Damons als Familienwerte hochhaltender Senator auf Abwegen.
Nicht einmal der Spaß an der Enthüllung des MacGuffins kann vergessen lassen, dass „Drive-Away Dolls“ bei nur 84 Minuten Laufzeit erhebliche erzählerische Längen aufweist. Was besonders schade ist, insofern die diesem Objekt der Begierde zugrunde liegende Idee durchaus betören kann. Ohne zu viel verraten zu wollen, besagt sie in etwa, dass die queeren „Wegwerfpuppen“ auf ihrer Flucht den Männern aus der so stabil wirkenden Heteronormalität der USA ganz aus Versehen die Quelle ihrer Dominanz gestohlen haben, um sie nun ausgiebig zum eigenen Vergnügen zu gebrauchen. Die Macht des Patriarchats speist sich dieser Lesart zufolge aus nichts anderem als männlicher Unsicherheit und sexuellen Neurosen, auf denen – sozusagen als Kompensation im Sinne von Triebumleitung – die Grundübel der Welt wie Kampf, Hass und Herrschaft gründen.
Unterbrochen und gestreckt wird die Handlung immer wieder durch tripartige Einspieler in Sexploitation-Ästhetik à la Russ Meyer. Vor psychedelisch verdrogten Farbmustern taucht allmählich eine lockende Frauenfigur auf. Wie ein Hinweis im Abspann verrät, stellt sie eine Reminiszenz an das Groupie Cynthia Plaster Caster dar, das die Genitalien ihrer Geschlechtspartner abformte und als Kunst ausstellte. Gespielt wird sie in dem Cameo-Auftritt von Miley Cirus.
Das ist natürlich alles auf eine kalifornische Weise cool. Den ganz woanders spielenden Film und sein Anliegen unterstützen diese Szenen aber nur sehr bedingt. Ethan Coen wendet sich mit seinem ersten Alleingang dem Anschein nach ausschließlich an den Humor der eigenen Fans. Relevanz stellt sich anders her. Potenzial hierfür böte der kulturelle Clash von Freigeistigkeit und Bigotterie vor dem Hintergrund des konservativ-reaktionären rollback im Amerika der ausgehenden Clinton-Ära zur Genüge. Zu dessen Entfaltung reicht es aber nicht, Klamauk aus Retro-Versatzstücken zusammenzusetzen. (Zuerst erschienen im Dschungel 10/2024)
Drive-Away Dolls (USA 2023). Buch: Ethan Coen , Tricia Cooke, Regie: Ethan Coen, Darsteller: Margaret Qualley, Geraldine Viswanathan, Matt Damon. Kinostart: 7. März