„Und wieder ging alles noch einmal weiter. Das Gas und das Wasser kamen aus der Wand. Die Milch und das Brot und die Zeitungen lagen vor der Türe. Paul und Klärchen wohnten noch in der Bendlerstraße (…). Sonntags gingen sie zu Eugenie, wo sie Annette und Waldemar und die Widerklee trafen (…) Oskar Mainzer saß dabei. Er sprach nicht. Seine Nase war zerschlagen, der Mund schief, da die ganze rechte Seite gelähmt war (…) ›Sehr merkwürdig, (…) daß sie ihn überhaupt aus dem KZ gelassen haben. Sie lassen die Entlassenen Zettel unterschreiben, daß sie nichts erzählen werden. Aber hier ist ja nichts zu verbergen.‹ (…) Das Grauen selber hatte am Kaffeetisch Platz genommen.“
So verdichtet Gabriele Tergit unter der Überschrift „Sommer 1939“ in wenigen Sätzen die Situation in Deutschland nach der Entfesselung der Judenverfolgung. Die Passage stammt aus einem der letzten Kapitel ihres knapp 900 Seiten umfassenden Hauptwerks, dem Epochen- und Familienroman „Effingers“, der 2019 eine Wiederauflage erfahren hat und nicht ohne Grund mit den „Buddenbrooks“ verglichen wurde.
Beginnen und enden lässt Tergit ihr Opus Magnum mit einem Brief des Protagonisten Paul Effinger, der an ihren Vater Siegfried Hirschmann, Gründer der Deutschen Kabelwerke, denken lässt. Den ersten Brief sendet Paul 1878 als Lehrling ehrerbietig und voll großer Pläne an seine Eltern in der fiktiven süddeutschen Provinzstadt Kragsheim. Dort geht das Leben seinen ruhigen, traditionellen Gang. Damit bildet der Ort den Gegenpol zur Metropole Berlin mit ihren kurzlebigen Moden und sozialen und kulturellen Umbrüchen, wohin Paul aufgebrochen war, um eine Schraubenfabrik aufzubauen. Sein unerschütterlicher Glaube daran, dass die maschinelle Großproduktion Wohlstand und – trotz mit ihr verbundener Hässlichkeit und schlechter Luft – ein besseres Leben für alle schaffen wird, lässt ihn zum Industriepionier und seine Familie reich werden.
In detaillierten Schilderungen von Festen, Zusammenkünften, wirtschaftlichen Entscheidungen und neuen geistigen Bewegungen hält Tergit Momentaufnahmen aus der Welt des assimilierten jüdischen Berliner Großbürgertums im Zusammenhang seiner Zeit fest. Besonders überzeugen dabei ihre Frauenfiguren, in denen immer wieder Stationen ihres eigenen Werdegangs erkennbar sind: eine Tochter aus gutem Haus, die dennoch in einem Arbeiterviertel aufgewachsen ist und die dortigen Lebensverhältnisse kennt, ihre Bildung gegen den Willen des Vaters durchsetzt und sich zur »neuen Frau«, überzeugten Liberalen und Journalistin entwickelt. Allerdings schafft sie kein durchgängiges Alter Ego, sondern verteilt Eigenschaften, die sie aus eigener Anschauung kennt, stets auf verschiedene Personen.
„Nicht mehr Herr und Meister unseres Schicksals“
Mit dem Ersten Weltkrieg bricht dann das alte Europa zusammen und weicht »einer neuen kampferfüllten Epoche«. Den letzten Brief adressiert Paul 1942 „in furchtbarer Stunde“ als „Mann von einundachtzig Jahren“ an seine „lieben Kinder und Enkel“, nicht wissend, ob seine Mitteilung ihre Empfänger je erreichen wird: „Wir müssen den bitteren Kelch bis auf den Grund leeren. Es ist keine Hilfe noch Rettung.“
64 Jahre liegen zwischen den beiden Nachrichten an die Familie, Tergit schildert diese Epoche jüdischen Lebens in Deutschland mit etwas mehr als 40 Hauptcharakteren und zahlreichen weiteren Figuren. Mit dem Gang der Ereignisse verändert sich der Stil des Buchs. Folgt es zunächst den Einsichten und den „Närrischkeiten“ der Personen und verliert sich bisweilen in Expertisen zu Innenarchitektur, Damentoiletten und Speisefolgen, beschleunigen sich die Montagen aus Dialogen und Abrissen aus Lebens-, Liebes- und Bildungswegen der Protagonist:innen aus drei Generationen mit den geschichtlichen Ereignissen. „Dass das äußere Geschehen überwuchert, ist vom Künstler so gewollt. Das gerade, dass wir alle mehr oder weniger seit 1914 gelebt worden sind, dass wir nicht mehr Herr und Meister unseres Schicksals waren, das soll eines der Charakteristiken der Schilderung sein“, kommentierte Tergit. Die Katastrophe, über die sie schreibt, bestimmt die Form des Romans.
Als Tergit mit der Arbeit an den „Effingers“ beginnt, ist sie 37 Jahre alt und auf der Höhe ihres Erfolgs. Ihr erstes Buch, der satirische Journalistenroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, ist von Ernst Rowohlt zu äußerst großzügigen Konditionen verlegt, von der Kritik begeistert besprochen und vom Publikum tausendfach gekauft worden. Dazu hat sie als Journalistin ein gutes Auskommen und sich durch Gerichtsreportagen, Porträts und politische Feuilletons im liberalen Berliner Tageblatt und in Carl von Ossietzkys Weltbühne einen Namen gemacht. Die Leser des Tageblatts wählten sie zu einer der beliebtesten Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur. Neben Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“ und Erich Kästners „Fabian“ wird ihr Buch als bestes des Jahres 1932 ausgezeichnet.
Nach der Machtergreifung der Nazis in allergrößter Gefahr
Als Jüdin und kritische Autorin ist sie nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland in allergrößter Gefahr. Als sie in der Nacht des 4. März 1933 von der SA in ihrer Wohnung überfallen wird, gelingt es Tergit mit knapper Not zu entkommen. Nachzulesen sind die Umstände in der kürzlich erschienenen Biographie „Gabriele Tergit – Zur Freundschaft begabt“ von Nicole Henneberg, die auch die Herausgeberin ihres Gesamtwerks ist.
Mit der Flucht nach Prag beginnen die Jahre des Exils, das die antizionistisch eingestellte Schriftstellerin über viele Stationen für einige Jahre nach Palästina und schließlich nach London führt, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1982 lebt. Neben allen Entbehrungen und Ungewissheiten kostet sie das ihr berufliches und privates Umfeld und vor allem das Medium, in dem sie nicht nur arbeitet, sondern lebt: die Sprache. In die geliebte Heimatstadt Berlin kehrte sie nur für einige Besuche zurück.
Trotzdem schreibt sie bis 1950 in »dreißig möblierten Zimmern« den Roman „Effingers“ zu Ende – und ist anschließend umso enttäuschter, dass im deutschen Literaturbetrieb niemand dessen Bedeutung anerkennt. Dabei hat sie ihre schon im Debütroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ eingesetzten Techniken genauer Beobachtung und Verdichtung weiter verfeinert; der Humor, mit dem sie dem wirtschaftlichen und moralischen Niedergang der späten zwanziger Jahre begegnet, ist einer lakonischen Trauer um eine ganze verlorene Welt gewichen. In ihren exemplarischen Figuren hat sie Charaktere mit Eigenleben geschaffen, die in der deutschen Literatur keinen Vergleich zu scheuen brauchen.
Dennoch erfährt sie zu Lebzeiten nie wieder den Erfolg, den sie in ihren „sieben fetten Jahren“ von 1925 bis 1932 erlebt hat. Exilanten sind dem deutschen Kulturbetrieb suspekt; ihre Art, über Juden als Menschen mit unterschiedlichen und einander durchaus auch widersprechenden Merkmalen zu schreiben, passt nicht ins Bild.
Ihre Wiederentdeckung erfährt Tergit erst in höherem Lebensalter. Mehrere Werke, die ihr wichtig waren, sind sogar erst posthum in der von Henneberg herausgegebenen Gesamtausgabe veröffentlicht worden, zum Beispiel der dritte Roman „So war’s eben“ oder die vollständige Fassung ihrer Lebenserinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“, die zuvor nur in einer stark gekürzten und eigenwillig lektorierten Ausgabe von 1983 erschienen waren.
Hennebergers Biographie gründet auf jahrelanger Beschäftigung mit Tergit, die mit bürgerlichen Namen Elise Hirschmann hieß und ihren Autorinnennamen aus einem rekombinatorischen Sprachspiel mit dem Wort »Gitter« bildete. Henneberg nutzt die Briefe aus dem Archiv der Familie der Autorin und dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Allerdings gelingt es nicht durchgängig, die Fülle des Materials so zu ordnen, dass es Tergit gerecht würde. Zu häufig werden identische Textstellen in verschiedenen Kontexten zitiert, ohne dass sich daraus neue Einsichten ergäben, zu ruppig wird im Lebenslauf immer wieder vor- und zurückgesprungen. Als Spiegel eines bewegten Lebens zwischen Eigensinn, großer Literatur und ebenso großer Empathie für die Bedrohten und Bedrängten taugt das Buch aber in jedem Fall.
Nicole Henneberg: Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt. Schöffling & Co., Frankfurt 2024, 400 Seiten, 28 Euro