Mit dem Sons of Anarchy Motorcycle Club Redwood Original hat das Rockerwesen vor einiger Zeit auch hierzulande Einzug in Bewusstsein und Wohnzimmer gefunden. Nun liefert Regisseur Jeff Nichols, seit Jahren ein Chronist des ländlichen Amerika, sozugagen die Vorgeschichte. Bevor die Clubs als Organisatoren von Drogenhandel, Waffendeals und Prostitution in die Abgründe des organisierten Verbrechens abtauchten, zeichnet er ihre Anfänge als die einer eigensinnigen Subkultur mit eigener Ästhetik, eigenen Regeln und der Möglichkeit, denen Halt zu geben, die ansonsten aus allen Verhältnissen herausfielen.

Benny (Austin Butler) auf seiner Maschine. Foto: Kyle Kaplan/Focus Features. © 2024 Focus Features. All Rights Reserved.

Eine eigene Familie in der Weite des Cornbelt

Sie „würden lieber aus der Kurve fliegen, statt zu bremsen“, bringt Benny (Austin Butler) die Einstellung echter Bikeriders auf den Punkt. Und die bezieht sich nicht nur aufs schnelle Fahren. Benny weiß, wovon er spricht. Schon die erste Szene, die der Film westernmäßig in einer nachmittäglich verlassenen Bar ansiedelt, macht klar, wie unbedingt er selbst zu seinem Motorrad-Club, den Vandals, und ihrer Auffassung von Freiheit steht. Von zwei grobschlächtigen Kleinstädtern aufgefordert, die Kutte abzulegen, entgegnet er: „Bevor ich die ausziehe, müsst ihr mich schon umbringen“. Dann trinkt er in aller Ruhe seinen Whisky aus und zieht noch einmal an der Zigarette, bevor sie ihn vom Barhocker schlagen.

Rauchen und Trinken in allen Lebenslagen sind neben dem Motorradfahren dann zunächst auch die Haupttätigkeiten im Club. Hinzu kommen Picknicks und Rennen im Matsch und selbstverständlich unbeholfen wildes Imponiergehabe gegenüber jeder Frau, die sich in die Nähe der Rocker verirrt. Das erfährt die resolute Protagonistin Kathy (Jody Comer) am eigenen Leib, als sie sich mit einer Freundin ausgerechnet im Stammlokal der Vandals auf ein Getränk verabredet. Ihr Impuls ist es denn auch, schnellstmöglich den Blicken und Grabschereien der aufdringlichen Männer zu entkommen.

Doch dann bleiben ihre Augen an Benny haften – beim Billard, wie es sich für einen wortarmen allamerican Posterboy gehört. Es ist Magie, eine unmögliche Liebe auf den ersten Blick. Er nimmt sie auf dem Rücksitz mit und bringt sie wieder nach Hause, wo er auf der gegenüberliegenden Straßenseite Stellung bezieht, bis ihr Freund, ein einfacher Handwerker, die Nerven verliert und das Weite sucht. Daraufhin klopft Benny an Kathys Tür, und fünf Wochen später heiraten sie.

Regisseur Jeff Nichols hat schon mehrere Kleinbürger-Dramen in der US-Provinz gedreht. 2011 machte er mit dem Katastrophen-Psychothriller „Take Shelter“ auf sich aufmerksam, 2017 beschrieb er in „Loving“, wie eine schwarze Frau und ihr weißer Partner ihren Ehewunsch gegen die Rassendiskriminierung in den US-Südstaaten der 1960er Jahre durchsetzten. „The Bikeriders“ spielt ebenfalls in dieser Epoche, ist aber im Cornbelt des ländlichen Illinois rund um Chicago angesiedelt. In lichtgetränkten Bildern voller ölverschmierter Gestalten spiegelt er die Mentalität der Rocker der ersten Generation zwischen Outlawgestus und Biederkeit in der durch und durch kultivierten Weite der Landschaft. Diese gilt spätestens seit Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ (1959) als ikonografisches Abbild der amerikanischen Seele.

Fotografen und Vorbilder

Inspiriert ist die Geschichte, für die Nichols auch das Drehbuch schrieb, durch das Fotobuch „The Bikeriders“ von Danny Lyon von 1968. Der fuhr für einige Zeit selbst mit dem Chicago Outlaw Motorcycle Club, fotografierte dabei und führte Interviews.

Im Film heißt der Fotograf ebenfalls Danny (Mike Faist); ihm sprechen Kathy und die Clubmitglieder ihre Geschichte mit Benny und den Vandals ins Aufnahmegerät. Diese Interviews strukturieren die Erzählung und begleiten ihre Charaktere von den Anfängen der Outlaws auf der Suche nach einer großen freien Familie bis zum Niedergang in bandenmäßiger Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution.

Gegründet werden die Vandals Mitte der 1960er Jahre, der Hochzeit des Motorradfahrens in den USA, von einem Trucker namens Johnny (Tom Hardy), nachdem dieser Marlon Brando in „Der Wilde“ (1953) gesehen hat. Dass der Rollenname Brandos in dieser Mutter aller Rockerfilme ebenfalls Johnny lautet, ist nicht Nichols einzige Verbeugung vorm Genre der Halbstarkenfilme.

Dem Vandals-Johnny verleiht Hardy mit meist gesenktem Kopf und leiser Stimme überzeugend Autorität als lebenskluger Anführer. Er hat ein gutes Gespür dafür, wann man Stärke demonstrieren muss und wann man besser einlenkt. Dagegen ist Benny, der weder Angst noch kompliziertere Gefühle als unbedingte Liebe oder Ablehnung zu kennen scheint, ein Solitär und die begehrenswerte Verkörperung absoluter Freiheit. Dass er niemandem etwas schuldet und auch selbst keine Ansprüche an andere stellt, macht Planungen mit ihm jedoch weder für Kathy noch für Johnny leicht.

Von Konflikten und Niedergang

Während erstere sich irgendwann wünscht, Benny möge aufhören zu fahren, möchte der Chef ihn zum Nachfolger machen. Wie sich herausstellt, sind beides Vorstellungen, für die Benny nicht zu haben ist. Deshalb spitzt sich der Kampf der beiden eigentlichen Hauptfiguren um ihre Lichtgestalt weitgehend ohne deren Beteiligung zu. Und folgerichtig wird er zuletzt auch eher durch den Gang der Ereignisse (beziehungsweise der amerikanischen Subkulturgeschichte) als durch bewusste Handlungen der Akteure entschieden.

Denn irgendwann drängen mit immer jüngeren Bikern, Anwärtern, schrägen Fremden und Konkurrenten von außerhalb zunehmend Gewalt, neuen Drogen und kriminellen Strukturen ins Herz des Rockerlebens. Das einstmals gemütlich-romantische Außenseitertum, das auch verrückten Käfermenschen und anderen Spinnern einen Platz am Lagerfeuer bot, ist schnell kaum mehr als eine schöne Erinnerung.

Zu einem umfassenden Soundtrack aus der Blüte der amerikanischen Gegenkultur gelingt es Nichols, sie betörend ins Bild zu setzen. Währenddessen dünnt sich die Gruppe der ursprünglichen Vandals aus und Johnnys Kampf um seinen Club kippt ins Lakonische. Bis Kathy einem etwas gealtertem Danny schließlich berichten muss, dass der Club, seit er zuletzt da war, nicht mehr derselbe ist. Aber das ist einerseits der Lauf der Zeit und andererseits schon immer eins der großen Themen des amerikanischen Kinos, in dessen Geschichten der Niedergang häufig dem Aufstieg auf den Fuß folgt.

The Bikeriders, Regie: Jeff Nichols (117 min) mit Tom Hardy, Austin Butler, Jodie Comer u. a.