Spanien

Das Mobiltelefon im Anschlag stieg ich aus dem Dämmer der U-Bahn wieder in Kälte und Licht des schwindenden Tages auf, ein Sänger ohne Lied, den niemand nachfragte, und die jährlich winterlichen Großereignisse waren ohnehin einmal mehr durch und vergangen. Erneut streckte sich die Zeit konturlos wüst ins Land, dem Tod entgegen, nur der Himmel, das riesige Wunschmaschinendisplay, war von einem ideal zu nennenden Blaue Stunde Kinoblau. Schnee fiel keiner mehr. Die Nummer, die ich, stehen bleibend sofort ein Stein des Anstoßes im Strom der Passanten, gewählt hatte, sei derzeit nicht vergeben, sagte, kaum dass ich auf eine Antwort vorbereitet gewesen wäre, die Automatenstimme in Vertretung eines Freizeichens in mein Ohr. Also hatte er es wahr gemacht. Hatte genug gehabt vom deutschen Winter, der sich durch von nichts als von Erfolglosigkeit gekrönter Schufterei nicht ausschalten oder abmildern ließ, und war abgehauen, dahin, wo es wärmer war, Spanien oder Südamerika, oft genug davon gesprochen hatte er. Der Wind zwischen den schnurgeraden Friedrichstraßenfassaden war eisig, ich fröstelte, zog meine Jacke enger um mich und steckte das Handy weg: Den nächsten Schritt musste ich allein tun, kein Partner war nach dieser nicht unerwartet aber doch plötzlich vollzogenen Flucht für mich in Sicht, und ich war der letzte, mich darüber zu wundern. In Mänteln und Outfits der Saison und frisch frisiert flanierte stattdessen, wie ich beobachtet, in gestählten Körpern greifbar gewordenes Kapital um mich herum, trat durch vor Stahlgerippe vorgehängtes zu mehr oder weniger edlen Materialien geronnenes Geld in Luxusboutiquen ein und kehrte paket- und tütenbewehrt wieder daraus hervor. Auch einige Praktikantinnen waren vor Ort, denen standen Versprechungen und hart erarbeitetes Understatement ins Gesicht geschrieben, und die Frage, ob wir eigentlich je zu diesem Menschenschlag hatten dazugehören wollen oder nicht, hatte sich in Wahrheit nie gestellt, denn es gab gar keine Alternative, so sehr hatte sich das Fluidum des notwendig zu erreichenden und zu behauptenden Luxus über alles gelegt. Allerdings war der Vorteil unserer Partnerschaft im Mindesten für mich gerade der gewesen, dass sie mir derlei Gedankenverschwendereien, wie ich es sah und sehen musste, eben von vornherein erspart hatte. Marc, mein Partner, war für mich ja sozusagen immer Scharnier und Schild dieser Welt des Banalen gegenüber gleichzeitig gewesen, hatte mich sowohl abgeschirmt als auch eingebunden, wenn man die paar Augenblicke Idealfall betrachtete, die es tatsächlich gegeben hatte. Wie ein in bürgerlicher Behütetheit stürmender und drängender Gymnasiast hatte ich mich nur auf mich und meine so genannten Ideen und Produktionen beschränken und zurückziehen brauchen, während er gleich einer Kontaktmaschine im Kunstmilieu dafür zu sorgen hatte, dass unser Produkt, nämlich wiederum letzten Endes ich und mein Spleen, gefordert, gekauft und bezahlt wurden. Eine Zeit lang hatte das funktioniert; erst hervorragend, dann weniger gut und zuletzt gar nicht mehr, bis er begonnen hatte, sich an unserem für uns und in erster Linie für mich plötzlichen Misserfolg aufzureiben und in dieser seiner Aufreibung, wie ich es gesehen hatte, Forderungen an mich zu stellen, die mit mir und meinem Spleen, wie ich ihn verstand und wie wir ihn anzubieten hatten, nicht mehr vereinbar gewesen waren. Daraus waren unser Streit und mein durchaus ungerechtes und ungnädiges Verstummen in seine Richtung resultiert, ein Schweigen, das mittlerweile ein halbes Jahr angedauert hatte. Dennoch war ich davon ausgegangen, es gäbe unsere unser Produkt, also mich, stabilisierende Einheit zumindest als Zweckbündnis und Zweckpartnerschaft, wenn schon nicht als Freundschaft, noch immer. Vor allem hätte ich sie oder einen Ersatz, den es nicht gab und der gar nicht vorstellbar war, gerade jetzt am nötigsten gehabt, wie ich angesichts der Verschwendung von Wellness, Geschmackund Körperlichkeit um mich herum bemerkte; gleichsam als Zugangsberechtigung zu der Welt der Verlockungen, die mich umgab und die mir doch skurril und unerreichbar schien, hätte ich ihrer, unserer Partnerschaft, wie mir schlagartig bewusst wurde, unbedingt bedurft. Wo heute Reichtum zur Schau getragen wurde, war einmal ein Zentrum der von uns mit Inbrunst und voller Verlangen bevölkerten Nachtleben-, Kunst- und Sehnsuchtswelten gewesen. Mit den Beschädigungen der Straßen und Fassaden waren, wie es schien, die Körper, Träume und Verlangen ausgebessert und saniert worden, heute gab es keine Einstiege mehr durch Löcher in Wänden in andere Welten, sondern nur noch Portale in die eine und ewig gleiche aus Geld, ansteckungsfreiem Sex und Sauberkeit, die zumindest allen als die absolut begehrenswerte erscheinen musste, die nicht über eine Zugangsberechtigung verfügten. Und wenn auch die Sache mit dem Begehren und dessen offenkundigen Erscheinungen wie seinen verschlungenen Pfaden ganz klar in mein Ressort fiel oder gefallen war, wie es von heute an wohl richtiger Weise heißen musste, stellte ich fest, dass ich mit dem von mir immer wieder festgestellten und aufs neue überprüften Wandel so schlecht zurechtkam wie mit dem Verstehen menschlichen Wollens und Wünschens überhaupt. Und wahrscheinlich war genau das, dachte ich, der Grundfehler gewesen: dass ich immer etwas als mein Ressort oder Gebiet angesehen hatte und als Ausgangspunkt und Nährboden meiner Arbeit, das ich nie wirklich zu beherrschen in der Lage gewesen war. Vielmehr war ich ja immer mehr als jeder andere oder doch zumindest als die meisten anderen den Kräften und Gewalten meines eigenen Begehrens ausgeliefert gewesen, gänzlich ohne dieses Ausgeliefertsein, wie ich es immer gerne gewollt hätte, handhaben und nutzbar machen zu können. Entgegen jeder Realität hatte ich immerzu angenommen, mein Ringen mit den Gespenstern meiner Begierden und Wünsche und Hoffnungen sei das, was als ernst und bedeutend anzusehen sei, während ich über jeden von Marcs neuen Plänen, meine Bemühungen und meine Person betreffend, an die er ja trotz allem geglaubt haben musste, zuerst geschmunzelt oder gelacht hatte. Seine reellen Arbeitsschritte hatte ich abgetan als Träumereien, seine Bemühungen in Richtung Plattenfirmen und Fernsehsendern und Werbepartnern als Zumutungen und in die Irre gehende Konstrukte, gleichzeitig hatte ich in meiner hermetisch abgeschotteten Welt nach Ausdruck gesucht für nichts als meine psychische Deformation und meine Unfähigkeit, ein normales Leben zu führen. Denn selbstverständlich lehnte ich jede Art von so genanntem normalem Leben strikt ab und erklärte sie der Tradition gemäß für bigott und verlogen, ekelte mich vor ihrer unauslotbaren Langeweile und tat dabei aber de facto selber gar nichts mehr. Nicht ein Stück Musik hatte ich geschrieben im letzten Halbjahr, das als irgend fertig hätte gelten können, und nicht ein Text war mir geglückt, der etwas von Interesse jenseits des unfreiwilligen klinischen transportierte, nicht einen Auftritt hatte ich bestritten. Vor in Wahrheit nichts als panischer Rückbesinnung auf lang vergangenes Glück, das es vielleicht nie gegeben hatte, wenn ich ehrlich war, und der Beschwörung der Notwendigkeit der Verallgemeinerung dieser Rückbesinnung, hatte ich angefangen, auf der Stelle zu treten und mich mehr und mehr im Kreis zu drehen, wobei ich mir durch mein Beharren auf der Richtigkeit meiner Bewegung alle Energie raubte, derer es bedurft hätte, den entscheidenden Schritt nach draußen und weg von meinem Wahn zu tun. Hätte ich mich auf Marc und seinen Rat, als er ihn mir noch gab und ich ihn noch annehmen konnte, eingelassen, hätten wir genau das getan. Wir wären nach draußen gegangen, der Sänger und sein Dompteur, auf ein Publikum zu, wir waren schließlich immer noch in Berlin und da gab es das, ein Berliner Publikum, dem es nicht weh getan hätte, wenn ich es in meinem Innersten verachtet und für lächerlich befunden hätte, jedenfalls wäre da etwas gewesen, das man als Austausch hätte bezeichnen können, und Geld hätten wir, wäre alles nur halbwegs gut gelaufen, ebenfalls verdient. Aber ich hatte mich dem bis zur Sprachlosigkeit entgegengestellt, hatte Wahrhaftigkeit erreichen wollen und Eigentlichkeit an Stelle von Vermarktung des Altbekannten und damit Langweiligen, bis ich letzten Endes gar nichts mehr erreichte, nur, dass ich unvermittelt allein hier stand und stehen musste, ohne Geld und auf dem Weg, Klinken zu putzen mit verwirrtem Kopf und ohne Management inmitten gut gebauter und gewarteter Leiber und Gebäude, denen man zuerst ihr Wissen um die Richtung ansah, die eingeschlagen werden musste oder sollte, wenn man teilhaben wollte an dem Leben, das sie durchgesetzt hatten. Verwirrt nestelte ich am Reißverschluss meiner Jacke, der sich nicht noch höher ziehen ließ. Dennoch war mir kalt, ich zitterte, ich hatte vergessen, was ich zu tun vorgehabt hatte, warum war ich ausgerechnet heute und ausgerechnet hier auf die Idee verfallen, Marc anzurufen, was hatte ich mir von ihm und von einem Gespräch versprochen? Durch die selbsternannten Genussmenschen in meiner unmittelbaren Umgebung hindurchblickend, versuchte ich mir meinen ehemaligen Partner und Ratgeber vorzustellen, der sich ebenfalls entgegen meiner innersten Überzeugung für einen Genussmenschen gehalten hatte, zumindest darin war er der von mir ignorierten und doch wahrgenommenen aktuellen Friedrichstraßenkundschaft nicht nur immer ähnlich gewesen, sondern glich ihr sogar wie ein Ei dem anderen. Jeder hielt sich heutzutage für einen Genussmenschen und somit Kenner. Wer es sich nicht leisten konnte, das zu leben, hielt sich eben für einen verhinderten Genussmenschen, und viele bezeichneten dann für sich ihr lebenslanges Herumlavieren um das Eingeständnis des Nichterreichenkönnens des eigentlichen Ideals als Lebenskunst, so dass sie in ihrer Entbehrung fast automatisch zu Lebenskünstlern und letztlich also zu Künstlern wurden. Trotz der Kälte und meiner eigenen Verzweiflung musste ich über diese Vorstellung lachen. Ein Volk der Künstler drängte sich hier vor meinen Augen zwischen veredelten Plattenbauten, Parkscheinautomaten, Boutiquen, Restaurants und öffentlichen Verkehrsmitteln der nächsten Saison und der nächsten Mode entgegen. Es gab künstlerische Sekretärinnen, im letztverfeinerten Weinkennertum schwelgende Kunstbuchhalter, mit dem absoluten Gehör gesegnete Kunststeuerfachgehilfen und sogar tantra- und ayurvedadünkelnde Fliesenlegerlehrlinge. Jeder hielt sich mit einiger Berechtigung für den absoluten Genussmenschen, und natürlich tat Marc, dem ich sein Kennertum nie abgenommen und über das ich mich hinter seinem Rücken sogar mokiert hatte, das auch. In seiner gesamtgesellschaftlichen Lächerlichkeit, sagte ich mir, war das doch als nichts denn als obszön anzusehen, denn in Wahrheit war doch immer nur ich der Genussmensch und der Tiefen- und Glückssucher gewesen und nicht die Masse der anderen und schon gar nicht jemand aus meinem Umfeld, auf das ich immer zuerst hinabgeschaut hatte und das ich jederzeit am liebsten gegen ein anderes, besseres ausgetauscht hätte, wie ich jetzt dachte. Und dennoch war es unleugbar so, dass ich es war, der hier ohne Plan in der Kälte stand, während Marc in Spanien nach einem warmen Tag auf dem Weg zum Essen war. Es sei denn, es verhielt sich alles ganz anders, und in Wahrheit war er, nicht ich, mittlerweile dermaßen pleite, dass er nicht einmal seinen Telefonanschluss noch hatte halten können; aber das schien mir nicht die wahrscheinliche Alternative zu sein.

(2004)