Alles beginnt noch vor dem ersten Bild mit der knarzigen Aufnahme von Woody Guthries „So Long, It’s Been Good to Know Yuh“. Darin heißt es: „This dusty old dust is a-gettin’ my home, and I got to be driftin’ along.“ Drifting, also sich treiben lassen, weiterziehen, ist ein wiederkehrendes Motiv in James Mangolds Bob-Dylan-Porträt LIKE A COMPLETE UNKNOWN. Der Film greift damit ein oder besser das Leitmotiv im Werk des mittlerweile 83jährigen Künstlers auf, der sich seit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten auf seiner „Never Ending Tour“ befindet.

Für den jungen Dylan war Guthrie, der in seinen Songs Armut und Unterdrückung anprangerte und „This machine kills fascists“ auf seiner Gitarre propagierte, ein wichtiger Einfluss. Von Guthries auf Akustikgitarre und Gesang reduziertem Sound, der auch in der Folk-Szene des New Yorker Greenwich Village als reine Lehre gepredigt wurde, löste sich Dylan hingegen. Er sprengte mit seinem Skandalauftritt, als er mit elektrifizierter Band in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1964 beim Newport Folk Festival spielte, sämtliche Konventionen der Szene. Wie es dazu kam, erzählt der auf Elijah Walds Buch „Dylan Goes Electric!“ basierende Film auf berauschende Weise.

Die Neuheit der Welt

19jährig kommt Dylan (Timothée Chalamet) per Anhalter nach New York City, um seinem Idol Guthrie, der mit fortgeschrittener Huntington-Erkrankung in einem Krankenhaus im Umland liegt, nahe zu sein. Im Krankenzimmer begegnet er Pete Seeger (Edward Norton), einem engen Freund und Weggefährten Guthries und Protagonist des Folk-Revivals, das zu dieser Zeit in voller Blüte steht.

Mit der spontanen Darbietung eines Songs überzeugt er die beiden Eminenzen von seinen Qualitäten als Songwriter und Performer, und Seeger nimmt sich seiner an. Er führt den jungen Dylan in die Szene des Village ein, verschafft ihm Auftritte und Kontakte zur Musikindustrie. Schon auf einer ersten gemeinsamen Autofahrt, bei der Dylan einen Rocksender im Radio einstellt, zeichnet sich ab, dass der musikalische Horizont des Schützlings wesentlich weiter ist als der seines Mentors.

Timothée Chalamet als Dylan auf dem Weg zur elektrisch verstärkten Band. Bild: (c) Seachlight Pictures

Dylan lernt die Künstlerin Sylvie Russo (Elle Fanning) kennen, die er mit Eigensinn und erfundenen Geschichten über seine Vergangenheit für sich einnimmt. Im Unterschied zu den meisten anderen Charakteren im Film ist diese Figur teilweise fiktiv. Sie spielt aber sehr eindeutig auf Dylans Freundin Suze Rotolo an, mit der er von 1961 bis 1964 zusammenlebte. Auf dem Cover von »The Freewheelin’ Bob Dylan« sieht man das Paar. Bald zieht Dylan bei ihr ein, lernt bei einem Open-Mic-Konzert aber auch Joan Baez (Monica Barbaro) kennen. Diese ist ein Star in der Folk-Musik. Dylan charakterisiert ihre Stimme beim ersten Aufeinandertreffen frech als „schön, vielleicht ein wenig zu schön“.

Karrierestart mit einem Flop

Schnell nimmt er eine erste LP auf, die auf Druck der Plattenfirma mehr Coverversionen als eigenes Material enthält. Das Album floppt. Sylvie ermuntert ihn, sich auf seine künstlerischen Fähigkeiten zu konzentrieren. Privat kriselt es bereits. Sylvie hält Dylan vor, dass er ihr gegenüber zu distanziert sei und seine Vergangenheit vor ihr verberge. Dylan verteidigt sich: Er wolle sich nicht an Zurückliegendes klammern, sagt er, da es doch genau darum gehe, sich weiterzuentwickeln und neu zu erfinden.

Zur Zeit der Kuba-Krise, die in den USA als so angsteinflößend erlebt wird, dass viele New Yorker aus Furcht vor einem russischen Atomangriff aus der Stadt fliehen, entstehen Songs mit deutlich politischen Inhalten. Dylan erspielt sich damit ein größeres Publikum. Auch Baez zeigt sich beeindruckt. Es ist der Beginn ihrer Affäre und ihrer künstlerischen Zusammenarbeit.

Dylan ist nun erfolgreich, leidet aber zugleich unter der Popularität. Er sieht sich gezwungen, immer wieder dieselben Songs zu spielen, und kann kaum noch unerkannt auf die Straße gehen. Selbst nachts trägt er nun in der Öffentlichkeit eine dunkle Sonnenbrille. Immer öfter zieht er sich hinter seine Gitarre, sein Klavier oder die Schreibmaschine zurück oder fährt auf seinem Motorrad durch die Gegend. Sylvie vermisst den Austausch und verlässt ihn, auch Baez setzt ihn vor die Tür.

Warum noch ein Dylan-Film?

Mangolds Film schildert den Weg des eigenwilligen Künstlers, der gegen die Erwartungen von Fans und Folk-Establishment eine radikale Entscheidung trifft, um sich in eine größere, mächtigere Version seiner selbst zu verwandeln. Allein die detailreich zum Leben erweckten Kulissen des Village der sechziger Jahre beeindrucken.

Vor allem aber gelingt es Timothée Chalamet, sich in den großen Unbekannten zu verwandeln. Dylans Songs hat er für den Soundtrack neu eingespielt, wie es für Musik-Biopics inzwischen Standard ist. Durch eine ganz eigene stimmliche Brüchigkeit schafft Chalamet tatsächlich eine unverbrauchte Neuinterpretation. Gerade bei notorischen Evergreens wie „Blowin’ in the Wind“ oder „Like a Rolling Stone“ ist das Ergebnis erstaunlich. Selbstverständlich spielen und singen auch Norton als Pete Seeger, Barbaro als Joan Baez und Boyd Holbrook als Johnny Cash ihre Gesangparts und Instrumente selbst.

Bücher, Dokumentationen und Filme über und auch von Bob Dylan gibt es zuhauf. Was also macht diesen Film besonders? Zumal die Phase, die Mangold sich vornimmt, schon häufig beschrieben, bebildert und analysiert worden ist – ganz explizit etwa in Martin Scorseses Dokumentation NO DIRECTION HOME (2005); ebenso setzt sich der noch immer atemberaubende Tourfilm DON’T LOOK BACK (1967) von D. A. Pennebaker mit dem Skandal des vermeintlichen Verrats an der Folk-Bewegung auseinander und zeigt den Star während seiner ersten Konzerte in England als rastlos Getriebenen, der selbst in Gesprächen mit anderen Größen selten von seiner Gitarre ablässt.

Verzicht auf die Psycholologisierung des Formwandlers Dylan

LIKE A COMPLETE UNKNOWN beeindruckt zunächst einmal durch seine Schauspieler:innen, aber auch durch den Verzicht auf die Psycholologisierung des Formwandlers Dylan, der Erklärungen immer verweigert hat. Sein Inneres bleibt unter sich verändernden Outfits verborgen. In gewisser Weise verfilmt Mangold weniger die Geschichte eines Künstlers als dessen Selbstmythologisierung. Er zeigt das Verschmelzen von Person und Rolle, von Identität, Songs und Kunst.

Dafür braucht der Film nicht zu beschreiben, mit welchen alltäglichen Realitäten sich der echte Robert Allen Zimmerman am Beginn seiner Karriere herumzuschlagen hatte. Durch die Wahl eines zeitlich relativ eng begrenzten Ausschnitts unterläuft Mangold ein Schema des Musikfilms, das nicht zuletzt er selbst mit dem Johnny-Cash-Films WALK THE LINE (2005) etabliert hatte: die Dramaturgie von Aufstieg, Fall und Comeback.

In LIKE A COMPLETE UNKNOWN geht es immer nur in eine Richtung: voran. Anders als etwa Todd Haynes großartiger I’M NOT THERE (2007), der das Enigma Dylan in sechs fiktive Charaktere spaltete und unter anderem Cate Blanchett als den Sänger brillieren ließ, ist Mangolds Film sichtlich für ein größeres Publikum gemacht. Und das, obwohl ausgerechnet die Beatles, mit denen Dylan zur Zeit der Filmhandlung bereits in Kontakt und Austausch stand, überhaupt nicht vorkommen.

LIKE A COMPLETE UNKNOWN (USA 2024). Buch: James Mangold und Jay Cocks. Regie: James Mangold. Darsteller: Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning