Endlich mal wieder ein Film, der die Geister scheidet! Während Dschungel und Die Presse die Lesart und Einschätzung des Rezensenten zu Aritz Morenos „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ teilen und passend weiterführende Über- und Zwischenüberschriften zur Verstärkung beisteuern, lehnt das Portal Kunst + Film, für das die Kritik zunächst geschrieben wurde, ihre Veröffentlichung nach eigener Sichtung ab. Zu geschmacklos sei der Zugriff auch noch auf die heikelsten Themen. Interessant vor allem auch deshalb, weil dort meinem Verriss von Lars von Triers Egotripmachwerk „The Hous that Jack built“ seiner Zeit noch eine lobhudelnde Gegenrede an die Seite gestellt wurde, die Gewaltverherrlichung, Hitler-Vergleiche und Frauenverachtung für ein wenig Dantediskurs gern mitkaufte. Daher hier die aktuelle Besprechung noch einmal in ihrer ganzen Schönheit:
Ein Bett im Obskuren
„Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist kein Titel, der beim ersten Hören rasantes Kinovergnügen vermuten lässt. Immerhin ist aber der Hinweis auf den Bereich des Dunkel-Anrüchigen und Grotesken, den die deutsche Version dem schlichteren Originaltitel („Ventajas de viajar en tren“, also etwa: „Vorteile des Zugreisens“) hinzufügt, in jedem Fall berechtigt. Mit deutlichen Anleihen bei der traumartigen Logik eines surrealistisch inspirierten Kinos in der Nachfolge von Buñuel und insbesondere dessen Meisterwerk „Das Gespenst der Freiheit“ unternimmt der spanische Regisseur Aritz Moreno in seinem im letzten Jahr vollendeten Langfilmdebüt eine wahre Tour de Force durch unterschiedliche kinematografische Genres. Aus Krankengeschichten entwickelt er Thrillerminiaturen, springt immer wieder ins tiefschwarz Komödiantische und kommt über den Umweg der Beziehungstragödie beim schieren Horror an.
Unterwegs mutet er seinen Protagonisten wie dem Publikum dabei einiges an Härten zu und entfaltet basierend auf einem Roman des hierzulande kaum bekannten Autors Antonio Orejudo ein gewitztes Panorama der Gegenwart. Dabei begnügt er sich nicht damit, die Welt mit ihren Abgründen und Geschichten sowie den daran hängenden nachvollziehbaren wie abstrusen Theorien über sie filmisch auf der Höhe der Zeit auseinandernehmen und neu zusammenzusetzen. Aus Mengen an Stoff, die andere gleich zu mehreren abendfüllenden Dramen inspirieren könnten, extrahiert er wie nebenbei auch noch eine vexierbildhafte Metaerzählung über das Wesen des Erzählens selbst.
Von Erzählern, Geschichten und Erzählumgebungen
Alles beginnt mit der von einer Erzählstimme aus dem Off vorgetragenen Annahme, eine Frau komme nach Hause und finde ihren Mann versunken in die Betrachtung seiner Fäkalien vor. Sie ließe ihn in eine Klinik „im Norden des Landes“ einweisen, und am Morgen danach, so der Erzähler, beginnt die Handlung: Auf ihrer Rückfahrt nach Madrid trifft die Frau, von der wir später erfahren, dass sie die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro) ist, im Zug auf einen Mitreisenden, der sich als Ángel Sanagustín (Ernesto Alterio), Psychiater aus eben der Klinik vorstellt, in der sie ihren Mann untergebracht hat. Um die Fahrt kurzweiliger zu gestalten, bietet er an, aus einer Akte von Patientengeschichten vorzulesen, die er mit sich führt.
Kot-Esser wie ihr Mann schrieben die kuriosesten Dinge, erklärt er Helga zum Einstieg in seine Narration, und Schizophrene neigten häufig dazu, immer wieder das eigene Leben zu schildern, allerdings jedes Mal anders. Ihre Persönlichkeit bestehe „lediglich aus einer Abfolge sich überlappender Episoden“, hinter denen kaum etwas zu finden sei, das sich als Individuum bezeichnen ließe. Paranoiker hingegen nähmen verstärkt Notiz von der Außenwelt und stellten falsche Zusammenhänge her. Ihre Geschichten könnten daher sehr gefährlich werden – wie die der Hauptfigur seines ersten Falls.
Martín Morales de Úbeda (Luis Tosar), so sein Name, hat im Kosovokrieg als Angehöriger der Luftstreitkräfte verstörende Erfahrungen rund um ein finanziell vor dem Ruin stehendes Kinderkrankenhaus gemacht, zu dessen Erhalt sich die leitende Ärztin gezwungener Maßen auf die zwielichtigen und höchst amoralischen Machenschaften einer mächtigen Geheimgesellschaft einlassen muss. Was sie Martín schließlich hierzu anvertraut, bringt ihn – recht nachvollziehbar – um den Verstand. Andererseits ist es nur der erste Schritt in ein ganzes Geflecht aus sich auf verschiedenen Ebenen überlagernden Erzählungen – ein Dickicht, in dem die Grenzen zwischen Autoren, Erzählern und Figuren mehr und mehr verschwimmen.
So wird zunächst Ángel regelrecht mit Gewalt in Martíns Geschichte hineingezogen, und in mehreren Anläufen entstehen konkurrierende Bilder einer Arzt-Patienten-Konstellation, die unterschiedliche Gefahren für Leib und Leben der in sie involvierten Personen beinhalten. Doch bald findet sich auch Helga, die anfangs passive Zuhörerin des zugfahrenden Psychiaters, mit ihrer ganzen Existenz in den Tiefen eines Erzählkosmos wieder, der mit dem von Ángel genutzten Bild vom Matroschka-Prinzip der Erzählung in der Erzählung nur äußerst unzureichend beschrieben ist.
Reminiszenzen und Wahrheiten
In drei Kapiteln mit unzähligen untergeordneten Episoden erschafft „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ein sich verästelndes Gefüge von miteinander kommunizierenden Themen und Motiven um Wahnvorstellungen, Persönlichkeitsveränderungen, das Elend des Menschen in einer durchaus nicht immer vorteilhaft eingerichteten Welt und seltsame Formen der Liebe. Deutlich erkennbare Inspirationen auf dieser Reise auch zu den Ursprüngen des Kinos in der Bebilderung des Unterbewussten sind Paul Thomas Andersons nur scheinbar vom Zufall beherrschtes Prinzip sich überschneidender Handlungsstränge mit wahrhaft überraschendem Höhepunkt aus „Magnolia“ (1999), die bloß oberflächlich aufgeräumten Welten Wes Andersons und das aktuelle koreanische Kino mit seiner ins alptraumhaft Physische projizierten Sektion des Gesellschaftlichen im Werk Park Chan-wooks („Oldboy“) oder Bong Joon-hos („Parasite“).
Und obwohl Morenos Film von verrückten Bild- und Erzählideen nur so strotzt, droht er doch an keiner Stelle auseinanderzufallen. Immer wieder schafft es die Regie, das Tempo zu erhöhen, das gerade durchlittene Schockmoment mit einer weiteren Volte zu konterkarieren und durch präzise Bilder absurd anmutende Einfälle wie in einem überzeichneten, aber immer höchst plastischem Traumerleben plausibel zu machen. Statt der Wahrhaftigkeit des Realismus strebt Moreno nach Glaubwürdigkeit und einer Überhöhung der Fiktionalität. „Alles ist Fiktion, wir sind selbst Fiktion“, sagt er im im Presseheft zum Film abgedruckten Interview.
Zwiebelschalen der Fiktion, die Hoffnung wecken
„Wir sind das, was wir anderen sagen, was wir sind. Alles um uns herum wird durch einen Filter geleitet, der es automatisch zur Fiktion macht. Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man auf eine Weise damit umgehen.“ Was als theorie- oder handlungsanleitende Einsicht in einer von Trumpismen und anderen Fake-News gebeutelten Gegenwart vielleicht etwas naiv klingt, erweist sich in der Durchführung im Film, in der unterschiedliche Wahrheiten und Versatzstücke kontrapunktisch kunstvoll montiert und gegeneinandergesetzt werden, jedoch als alles andere denn einfach oder gar platt.
Mit einem ganzen Ensemble an originellen Figuren und nie nachlassender Spannung eröffnet „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ die Hoffnung auf ein neues spanisches Filmwunder nach der Ära Almodovar. Zuletzt hatte es Ansätze dazu um die Jahrtausendwende mit den ersten größeren Filmen Julio Medems (allen voran „Die Liebenden des Polarkreises“ von 1998) gegeben. Dessen Werk verlor sich dann allerdings in einer immer vordergründigen Fokussierung auf hübsch anzuschauende erotische Oberflächen und büßte beständig an erzählerischer Dichte ein. Mit seinem zwischen Verrücktheit und Brillanz mäanderndem Erstling empfiehlt sich nun Moreno als neuer Anwärter auf diesen nicht uninteressanten Platz im europäischen Kino.
Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden, Regie: Aritz Moreno (103 min) mit Pilar Castro, Ernesto Alterio, Luis Tosar u. a.
Kinostart: 20.8.2020