Zumindest im Kino fängt 2024 breit aufgestellt und divers an. Mit einem düsteren Politthriller mit Mystery-Einschlag. Und einem Fußballfilm, der beinahe alle Erwartungen ans Sportfilmgenre enttäuscht, aber gerade dadurch punktet. Grusel und entspanntes Loslassen. Wenn das nicht nach Orakel riecht …
IM TOTEN WINKEL – Geister des Krieges
In einer abgelegenen Gegend im Osten der Türkei arbeitet die deutsche Filmemacherin Simone (Katja Bürkle) an einem Dokumentarfilm. Damit möchte sie kurdischen Aktivisten, die im schleichenden Bürgerkrieg mit der türkischen Armee und Organen der Zentralregierung verschleppt und ermordet worden sind, ein „immaterielles Denkmal“ errichten, wie sie es nennt. Im Fokus ihres Projekts stehen der Menschenrechts-Anwalt Eyüp (Aziz Çapkurt) und die Kurdin Hatice (Tudan Ürper). Sie bereitet noch 26 Jahre nach dem Verschwinden ihres Sohnes mit einem Ritual dessen Rückkehr vor und hält so das Andenken an ihn wach.
Dokumente und Vorzeichen
Was zunächst anmutet wie ein Making-of zur Entstehung dieses Dokumentarfilms, nimmt allerdings schon bald eine Wendung ins Bedrohliche. In die Bilder und Szenen, die durch präzise Beobachtung von Orten, Landschaft und Akteuren geprägt sind, schleichen sich Vorzeichen dafür ein, dass dieses Unternehmen unter keinem guten Stern steht. Auf offener Schnellstraße trifft etwa ein Steinschlag die Windschutzscheibe des Wagens, in dem das Team unterwegs ist – und immer wieder taucht im gedrehten Material ein verdächtiger schwarzer Wagen auf.
Dann bringt eine Dolmetscherin die siebenjährige Melek (Çağla Yurga) mit zum Dreh. Das Mädchen ist mit seinem starren Blick vor allem Kameramann Christian (Maximilian Hemmersdorfer) unheimlich. Zudem verunsichert sie das Team mit Detailwissen über den Anwalt Eyüp, den sie vorher nie gesehen hat. Auf seine Frage, woher sie so viel über ihn wisse, antwortet sie, ein unsichtbarer Freund verrate ihr seine Geheimnisse. Kurz darauf verschwindet Eyüp spurlos.
In drei Kapiteln entwickelt sich „Im toten Winkel“ zu einem Polit-Thriller mit mysteriösen Elementen, der für wenige der Beteiligten gut ausgeht. Jedes Kapitel entwirft seine eigene Version des Geschehens, das an Filme über politische Paranoia aus den 1960er bis 1980er Jahren erinnert, jeweils aus einer anderen Perspektive und mit anderem Schwerpunkt. Dabei werfen die Schilderungen immer neues Licht auf die blinden Flecken der Ereignisse, die sich unaufhaltsam wie in einer griechischen Tragödie vollziehen. Jedes Mal enthält die neue Version weitere Details, die Leerstellen im zuvor Gezeigten auffüllen.
Protagonisten, Täter und Opfer
Durch diese Erzählstruktur, die Chronologie außer Kraft setzt, dafür aber den Charakteren und ihrem Erleben umso näher rückt, gelingt es Regisseurin Ayşe Polat, die verschiedenen Ebenen ihrer Geschichte mit großer Leichtigkeit zusammenzuhalten. Nachdem unter anderem das Filmteam das Ende des ersten Kapitels nicht überlebt, rücken danach vor allem das Mädchen Melek und dessen Visionen sowie sein Vater Zafer (Ahmet Varlı) in den Mittelpunkt des Interesses.
Zafer arbeitet für eine autonom agierende Zelle des türkischen Geheimdienstes. Diese ist familiär-patriarchal organisiert; dem Chef ist daran gelegen, alles zu überwachen und zu kontrollieren. Da ist es nur logisch, dass er von seinen Leuten die Treffen zwischen Aktivisten und Dokumentarfilmern beschatten lässt und sie zu beeinflussen sucht. Diese Kontrollwut führt jedoch nicht nur schnell zu mehr Gewalt, als eigentlich beabsichtigt war. Sie löst auch innerhalb der Geheimdienst-Zelle Furcht und Argwohn aus; Täter werden zu potenziellen neuen Opfern.
Bilder und Geister
Von Anfang an spielen auf allen Ebenen Bilder und ihre Erzeugung eine entscheidende Rolle. Zunächst will Kameramann Christian immer wieder Räume und Aktivist:innen in den gewünschten Zusammenhang stellen. Dann gewinnen im Verlauf der Handlung Überwachungsbilder an Bedeutung. Eine von Zafers Aufgaben ist, die Aktivitäten der von ihm Beschatteten aufzuzeichnen. Bald beginnt er, auch seine Kollegen aufzunehmen – man weiß ja nie, wofür man derlei irgendwann als Beweismaterial gebrauchen kann.
Doch auch seine eigene Wohnung wird zu diesem Zeitpunkt bereits bis in den letzten Winkel von Kameras ausgespäht. Ihr Vorhandensein wiederum irritiert die sensible Melek, deren Verhalten immer seltsamer wird – bis Zafer ihr sein Mobiltelefon anvertraut, um die sie belastenden Visionen zu filmen. Damit gibt er ihr allerdings auch sein eigenes, verstörendes Bildmaterial an die Hand. Irgendwann sind dann derart viele Bilder und Bildebenen im Spiel, dass die Folgen nicht mehr zu steuern sind.
Regisseurin Polat, die sich bereits 2013 in ihrem Spielfilm „Die Erbin“ innertürkischen Konflikten widmete, hat selbst alevitisch-kurdische Wurzeln. In ihrem ausgezeichnet gespielten und inszenierten Thriller führt sie vor, wie ungesühnte staatliche Gewaltakte und Erinnerungen an offene Wunden auf fatale Weise das Leben der Menschen in der Südosttürkei beeinflussen. Wie es im Film selbst heißt: Traumata bedeuten den Verlust von Gegenwart. Sie zwingen die davon Betroffenen zum steten Leben in der Vergangenheit.
Im toten Winkel, Regie: Ayşe Polat (118 min) mit Katja Bürkle, Ahmet Varlı, Çağla Yurga u. a.
NEXT GOAL WINS – Bitte, nur ein Tor!
In seinem neuen Spielfilm „Next Goal Wins“ erzählt der neuseeländische Regisseur, Autor, Schauspieler und Comedian Taika Waititi eine wahre Episode aus der bewegten Geschichte der Fußballnationalmannschaft von Amerikanisch-Samoa. Die polynesische Inselgruppe zwischen Neuseeland und Hawaii ist US-amerikanisches Außengebiet und hat ein eigenes Nationalteam, das 2001 in einem Qualifikationsspiel für die Fußballweltmeisterschaft mit 0:31 gegen Australien unterlag. Es war das schlechteste Ergebnis, das je im internationalen Fußball dokumentiert wurde. Auch in den folgenden Jahren konnte das Team in keinem Spiel auch nur ein Tor erzielen. Dennoch versuchte die Mannschaft sich für die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien zu qualifizieren und engagierte dafür den niederländischer Trainer Thomas Rongen.
Der von Michael Fassbender verkörperte Rongen ist ein selbst im Abstieg begriffener Trainer, der sich nicht aus freien Stücken für den Job am äußersten Ende der Welt entscheidet, sondern wegen Erfolglosigkeit von seinem Verband in den neuen Vertrag hineingezwungen wird. Nur zu gern möchte man den Hitzkopf aus der eigenen näheren Umgebung verbannt sehen, zumal er auch privaten Interessen einiger Funktionäre im Weg steht. Schon bald nach seiner Ankunft auf der Insel im Pazifik mit wenig mehr als einem kaputten Koffer wird klar, dass er Aufmunterung mindestens genauso nötig hat wie die ihm anvertraute Mannschaft.
Sport als Heldengeschichte
Vordergründiger noch als andere Filmgenres erzählen Sportfilme Heldengeschichten. Immer geht es darum, die Komfortzone der heimischen Welt zu verlassen, um furchteinflößende Gegner, vor allem aber den inneren Schweinehund zu bezwingen. Nach tiefen Tränentälern, Selbstaufgabe und Verzettlung sollen die Protagonisten über sich hinauswachsen und Leistungen erbringen – fürs Vaterland, den Sport an sich oder für das eigene Selbstwertgefühl. Geprägt sind solche Geschichten stets durch eine ordentliche Dosis Pathos. Man findet es bei dem um sich selbst kreisenden Boxer Jake LaMotta (Robert DeNiro) in Martin Scorseses „Raging Bull“ (1980), der häufig als bester Sportfilm aller Zeiten bezeichnet wird, und bei Rocky Balboa (Sylvester Stallone) aus der 1976 begonnenen Rocky-Reihe genauso wie bei Sönke Wortmanns deutschem „Wunder von Bern“ (2003). Dabei muss der Held weder zwangsläufig ein Mann noch im ethischen Sinne besonders gut sein, wie das Beispiel „I, Tonya“ (2017) mit Margot Robbie in der Titelrolle der Eiskunstläuferin Tonya Harding zeigt. Sie will ihren Traum vom Sieg durch einen Anschlag auf Leib und Leben ihrer wichtigsten Rivalin erzwingen. Gut oder nicht – im ritualisierten Wettkampf spiegelt sich die Härte des Lebens, die manchmal die der Geschichte ist, manchmal aber vor allem die Herausforderung, mit den eigenen charakterlichen Dispositionen klarzukommen.
All diese Überhöhungen des Helden unterläuft „Next Goal Wins“ recht wirkungsvoll. Denn offensichtlich ist Taika Waititi nicht sonderlich daran gelegen, aus seinem Protagonisten eine „tiefe“ Figur zu machen, der man Empathie entgegenbringt. Zudem liegen die Sympathien des bei großen Teilen der anglo-amerikanischen Kritik als Regieberserker geschmähten Regisseurs, eindeutig bei den Looser-Figuren. Mit ihrer völlig anderen Einstellung zum Gewinnen konterkarieren die Fußballer des Inselparadieses nicht nur alle Bemühungen ihres neuen Coachs, sondern zeigen auch, dass sie Fußball als Spiel betrachen, das nur begrenzt Vorrang vor anderen Bereichen des Lebens hat. Womit sie sozusagen als Antithese zum Genre des Sportfilms und des Sports an sich erscheinen.
Flache, freundliche Figuren
Herauszuheben aus der Menge an – zugegebenermaßen – wenig entwickelten Charakteren ist hier vor allem der Manager des Teams Tavita (Oscar Kithley). Auf der Insel hat er – wie die anderen Vereinsmitglieder auch – noch eine Menge anderer Jobs – etwa als Tonmeister beim ortsansässigen Fernsehsender. Rongen tritt er als Gastgeber, Vorgesetzter und Berater gegenüber, wobei er ihn zumindest anfangs immer wieder mit dem Mantra „Nur ein Tor, nur ein Tor!“ beschallt, ihn schließlich aber auch an die Hand nimmt, um ihm zu helfen, eine wenigstens etwas bessere Version seiner selbst zu werden.
Außerdem ist da Jaiyah Saelua (Kaimana), das Herz der Mannschaft und für Rongen von Anfang an gleichermaßen Rätsel wie Ärgernis. Mit der Fa‘afafine, wie in Polynesien eine biologisch männliche, aber als Frau sozialisierte Person genannt wird, kommt der Niederländer nicht klar und begeht prompt und entgegen ihrer Warnung den Fehler, sie bei ihrem verhassten männlichen Namen zu rufen. Dennoch werden sich die beiden mit der Zeit zusammenraufen, woran die Außenseiterin deutlich mehr Anteil hat als ihr Trainer. Die Figur ist der gleichnamigen Transgender Jaiyah Saelua nachempfunden, die unter ihrem Geburtsnamen Johnny Saelua im Herrenfußballnationalteam der Insel kickt und, wie in Samoa bei Familien die nur Söhne haben, nicht unüblich, als Mädchen erzogen wurde.
Subversion als Strategie und Spaß
Deutlich ergibt sich beim Betrachten des Films der Eindruck, dass Waititi große Freude daran gehabt haben muss, das Genre Sportfilm zu demontieren. Statt die gegebene – und als Dokumentarfilm bereits unter demselben Namen verfilmte – Geschichte zu nutzen, um ein weiteres Mal von der Macht des Fußballs zu erzählen, entscheidet er sich für die entgegengesetzte Strategie.
Seinen mehrfach Oscar-nominierten Hauptdarsteller, der von Quentin Tarantino über Steve McQueen bis zu David Fincher bereits mit vielen Größen gedreht hat, lässt Waititi einen klischeemäßig verkorksten, übellaunigen und daueralkoholisierten Trainer spielen. Das Drehbuch baut Waitit zudem aus Fragmenten anderer Sportfilmen zusammen und übernimmt dabei die Motivationsrede aus Oliver Stones Baseball-Drama „Jeden verdammten Sonntag“ (1999) fast wortwörtlich. Anstatt aus dieser Herangehenweise Lustlosigkeit oder Nachlässigkeit abzuleiten, könnte es interessanter sein, zu verstehen, was es damit auf sich hat: Gleich zu Beginn des Films taucht die – vom Regisseur selbst gespielte – Figur eines Priesters auf, der mit einer mäßig ambitionierten Rede in die Handlung einführt. Er betont, dass es sich beim Folgenden nicht um eine Geschichte handeln wird, in der ein weißer Mann einer Gruppe von Indigenen den Weg weist. Stattdessen werde der Trainer irgendwann lernen müssen, dass Fußball für sein Team „nur ein Spiel“ ist, auch, wenn er bisher nie auf die Idee gekommen ist, das so zu sehen.
An seine alte Form – die er in der Vampirkomödie „5 Zimmer Küche Sarg“ (2014) oder in der Oscar-prämierten Nazi-Coming-of-Age-Tragikomödie „Jojo Rabbit“ (2019) bewiesen hat – kann Waiti immer dann anschließen, wenn er seinem Hauptdarsteller erlaubt, mit einigen Stunts beim Training slapstick-haft albern zu werden; oder wenn er die Form der Heldenerzählung erzählerisch genau da bricht, wo nach den Regeln des Genres das Pathos regiert: in den finalen Minuten des alles entscheidenden Spiels. Diese zerlegt Waititi so genüsslich wie kunstvoll in kleinteilige Sequenzen, die den bevorstehenden Siegestaumel immer wieder zurüchalten. Das ist wirklich eine Innovation im Sportfilm, für die sich nach den Großproduktionen der Thor-Superheldensaga Waititis Abstecher in ein Filmprojekt mit Independent-Ausmaßen gelohnt hat.
Next Goal Wins, Regie: Taika Waititi (105 min) mit Michael Fassbender, Oscar Kightley, Kaimana u. a.