Vom Verschwinden der Hände
Alles klar? – Klar: Schwarz nickte der jungen Frau, die für sein Wohlergehen bis zum Auftritt verantwortlich war, zu. Der Saal war gut gefüllt, gleich sollte es losgehen: Showtime. Doch etwas in ihrem Gesicht verunsicherte ihn. Es war die Starrheit ihres Blicks, die er zunächst für besorgte Anteilnahme gehalten hatte. Aber da hatte er sich getäuscht. Er hatte nicht das Gefühl, sie sorge sich um ihn. Eher beobachtete sie ihn, als befänden sie sich in einer von ihr beherrschten Versuchsanordnung. Was erwartete sie? Dass sie ihn gleich fallen sehen werde? Kaum. Sicher war er der Situation entsprechend aufgeregt. Das brauchte er, um rauszugehen. Er musste das Adrenalin spüren, das unter der Haut das Kribbeln erzeugte, das ihn ans Mikrofon trug. Wirkliches Lampenfieber kannte er hingegen nicht. Dafür war er zu sehr in seinem Element. Was er machte, machte er seit Jahren und für seine Verhältnisse vergleichsweise erfolgreich. Er hatte seine Form gefunden, in der er sich seiner selbst sicher war. Beim Reden, das er erst hatte lernen müssen, fühlte er sich mit der Welt verbunden. Er brauchte niemanden, der ihn im Vorfeld aufmunterte. Und schon gar niemanden, der ihn aufmuntern wollte oder sollte und das – unprofessionell – nicht schaffte. Schwarz lachte. Hatte er das gerade gedacht? In seinem Vortrag ging es doch genau darum: Schwarz wollte sein Publikum aufrufen, sich endlich von den alles verschlingenden Professionalisierungsnotwendigkeiten zu befreien, die das Leben jeden Tag zu ersticken drohten. Ein Lob der Offenheit wollte er singen, des Experimentierens und Tastens gegen die Allmacht der Optimierungs- und Verwertungszwänge. Die junge Frau lächelte ihn an und fragte, ob er einen bestimmten Getränkewunsch habe oder irgendetwas sonst benötige. Schwarz winkte ab, besann sich jedoch gleich eines besseren und bestellte ein Glas Riesling Schorle auf die Bühne. Weniger, weil er Lust darauf hatte, als weil er sich ihrer Betreuung entziehen wollte. Aufatmend sah er ihrem wiegenden und doch bestimmten Gang in Richtung Bar hinterher und musste sich eingestehen, dass sein Blick länger daran haften blieb, als ihm lieb sein konnte.
Egal. Die letzten Minuten sollte er nutzen. Luft holen, noch einmal die Argumentationskette durchgehen. Mit Rechts griff er in seine Hemdtasche, aus der er die Karteikarten mit den Notizen zog, mit Links tastete er nach der Lesehilfe, die in der rechten Innentasche seines Jacketts stecken sollte. Da war aber nichts. Erschreckt durchsuchte Schwarz alle anderen Taschen, fand auch dort nicht, wonach er suchte, und erinnerte sich, dass er die Billigbrille zuletzt am Morgen auf dem Nachtisch im Hotelzimmer gesehen hatte. Unwillig schüttelte er den Kopf und warf aus zusammengekniffenen Augen einen Blick auf die Karteikarten. Keine Chance. Nicht bei den hier herrschenden Lichtverhältnissen.
Das passte, dachte Schwarz. So fühlte es sich an, im Kapitalismus alt zu werden. Mit dem Nachlassen der Sehkraft waren ihm als erstes die eigenen Hände aus dem Blickfeld geraten. Eines Abends hatte er, als er gewohnheitsmäßig seine Nagelbetten kontrollieren wollte, seine Fingerspitzen nicht mehr ausreichend scharf stellen können. Vielleicht sollte er darüber sprechen: Das Verschwinden der Hände als Zeitphänomen. Die Deindustrialisierung des Körpers. Schwarz kniff die Mundwinkel zusammen. So nah bei sich hatte er nicht anfangen wollen. Aber wie er selbst gern zu sagen pflegte: Über Systeme zu sprechen, lohnte ja nur, wenn es gelang, das blindwütig vor sich hinwirkende Abstrakte nah genug an die eigenen Lebensumstände heranzuholen. Wen sollte schließlich ein Begriff wie der des Werts interessieren, wenn Schwarz nicht handgreiflich nachvollziehbar vermitteln konnte, wie dessen konkrete Form und Ausformulierung für Richtung sorgte, für Beschleunigung und wie sie die Verhältnisse zum Tanzen brachte?
Vielleicht war es richtig, beim Verschwinden der Hände anzufangen. Mit den Händen hatte der Mensch schließlich begonnen, in seiner Bearbeitung der Welt Unterschiede zu setzen. Hatte Neues geschaffen, und mit allem, was neu in die Welt kam, hatten sich Gravitationspunkte gebildet, die es vorher nicht gegeben hatte. Um das Neue herum entwickelten sich sich selbst erschaffende Systeme. Prägten Unterscheidungsmerkmale aus. Erzeugten Regeln. Abstrakte Ordnungen, die alles Vorgefundene auseinanderrissen und neu zusammensetzten, umschichteten und reorganisierten. Sie schufen den Staat. Das Geld. Den Wert als automatisches Subjekt. Wer oder was sorgte denn dafür, dass wir davon weggekommen waren, dass die Scheiße entlang lehmiger Pfade durch offene Gräben kroch? Dass unsere Garküchen irgendwann mehr geworden waren als nur große Blechtöpfe am Straßenrand? Dass Strom floss und zwar geregelt und zugeteilt, ohne dass man ihn sich unter Einsatz seines Lebens aus lose im Wind baumelnden Kabeln selbst abzweigen musste, um ein Radio mit nostalgischen Melodien zum Laufen zu bringen oder eine Kaffee- oder Waschmaschine? Woran lag es denn, dass unsere Städte in die Höhe wuchsen und gleichzeitig komfortabler, niedlicher und unerschwinglicher wurden, dass die Arbeitszeiten ins Private überlappten oder dass man always on war, wenn man nicht abstürzen wollte? Alles war ursächlich der Bearbeitung der Welt durch die Hände des Menschen geschuldet, die nun aus seinem Blickfeld verschwanden, wenn er seine Lesehilfe nicht zur Hand hatte. Schwarz seufzte. So konnte er das natürlich nicht darstellen.
Er steckte seine Zettel wieder weg. Von irgendwoher kam ein für den Moment offensichtlich herrenloser Hund angelaufen. Schwarz tätschelte ihm den großen Kopf und hätte sich kaum gewundert, wenn ihm das Tier einen Tipp mit auf den Weg gegeben hätte. Worum es ging, war zu erklären, wie sich dem Leben Bedeutung abringen ließ, nachdem die großen Bedeutung stiftenden Erzählungen zusammengebrochen waren und jede Bemühung als das begriffen werden musste, was sie war: eine Laune der dem Menschen gegenüber gleichgültigen Natur des Universums. Wie sollte er daraus etwas machen, das sein Publikum einen halben Abend lang bei der Stange hielt?
Dann war die junge Frau wieder da. Sie lächelte und hatte seine Weinschorle in der Hand. Das war gut. Schwarz atmete durch, die Frau nickte ihm aufmunternd zu, und er enterte die Bühne. Der erste Satz, den er sich für diesen Abend in diesem Stadtteil dieser Stadt zurechtgelegt hatte, stellte sich ein, als er ihn brauchte, und Schwarz schmetterte:
Ich liebe den Geschmack von Soja am Morgen.
Dafür erntete er erste vorsichtige Lacher. Der Rest fand sich.