Hans Weingartners „303“

Mit 303 legt Hans Weingartner als fünften abendfüllenden Spielfilm eine Meditation über Liebe und Beziehungen vor, die sich ganz auf ihre beiden Protagonisten konzentriert. Als Roadmovie erzählt sie die Geschichten von Jule (Mala Emde) und Jan (Anton Spieker) und ihrer allmählichen Annäherung. Die Geschwindigkeit passt sich dabei der Reisegeschwindigkeit von Jules 30 Jahre altem Wohnmobil an, mit dem sie ihren nur zufällig gemeinsamen Trip von Berlin an Südwesteuropas Atlantikküste zu großen Teilen über Landstraßen bestreiten.

Während Jule nach einer nicht bestandenen Prüfung in Biochemie auf dem Weg zu ihrem Freund Alex in Portugal ist, um ihn über ihre ungewollte Schwangerschaft in Kenntnis zu setzen, hat Jan vor, nach Köln zu trampen, um von dort mit dem Bus zu seinem ihm bisher unbekannten leiblichen Vater im Baskenland zu fahren. Mehr ist für ihn nach der Absage eines Stipendiums durch eine konservative Studienstiftung an Reisekomfort nicht drin.

Da trifft es sich gut, dass er, nachdem ihn seine gebuchte Mitfahrgelegenheit versetzt hat, auf Jule und ihr eigentümliches Gefährt trifft. Jule nimmt Jan mit, stellt aber nach einem schnell eskalierenden Streit zum Thema Selbstmord fest, dass sie in ihrem Zustand nicht gesellschaftsfähig ist, und setzt ihn prompt wieder vor die Tür.

 

 

Nach einigen kleineren und größeren Schrecken – er stellt fest, dass er ihr gegenüber nicht nur unsensibel gewesen ist, sondern auch sein Handy im Wohnmobil hat liegen lassen; sie wird am Abend von einem Ex-Bundeswehrsoldaten bedrängt und fast vergewaltigt – finden sie einige Raststätten weiter doch wieder zusammen, als Jan gerade im richtigen Moment auftaucht, um ihren Angreifer in die Flucht zu schlagen. Von nun an – er fährt slebstverständlich wieder bei ihr mit – haben sie alle Zeit, um sich über ihre jeweilige Sicht auf die Welt, die Menschheit und was das Beste für sie sein könnte, auszutauschen.

Konkurrenz oder Kooperation

Trotz gleichen Alters und ähnlicher Stellung im Leben, kommen sie schnell dahinter, dass sie in ihren Grundüberzeugungen bei aller gegenseitigen Sympathie konträrer kaum sein könnten. Während Jule davon ausgeht, dass der Mensch von Natur aus zu Kooperation und Empathie neigt und sich diese Tendenzen auf lange Sicht auch durchsetzen werden, ist Jan überzeugt, die Gattung sei von Grund auf egoistisch und habe Spaß an der Konkurrenz. Dadurch lassen sich für ihn sowohl der Kapitalismus als auch die Weltgeschichte erklären, die er als einziges Blutbad beschreibt.

Ähnlich gegensätzlich sind ihre Ansichten, wenn es um Liebe und Sexualität geht. Immer stärker fokussieren sich ihre Gespräche auf diese Themen – und immer dringlicher werden ihre Versuche, das Gegenüber von der Richtigkeit der eigenen Standpunkte zu überzeugen. Umso größer wird aber auch die Gefahr, dem anderen an wunden Punkten zu nahe zu kommen und ihn zu verletzen – beziehungsweise sich doch ineinander zu verlieben. „Aber wir bleiben stark, oder?“, fragt Jule noch, als das kaum mehr zu schaffen ist.

Hans Weingartner, der von sich sagt, er sei nicht zuletzt Wissenschaftler, der sich vor allem für die Erforschung der Welt und des Sozialen interessiere, hat seine Protagonisten auch in früheren Filmen schon viel theoretisieren und das eigene Handeln analysieren lassen. Dass er hier unnötigen Ballast wie Entführungen, wohlfeile Medienkritik und Revolutionspathos hinter sich lässt, ermöglicht seinem Schaffen eine neue Tiefe.

Filmen, lieben, stark bleiben

Wie die Kamera rückt auch die Erzählung nah an die Charaktere heran. Alles, was passiert, kommt einem normal und bekannt vor; jedes Gespräch könnte so oder ähnlich einer tatsächlichen Unterhaltung unentschlossen verliebter junger Menschen aus dem Studentenmilieu abgelauscht sein.

Unterstützt wird die Intimität von 303 durch das Spiel von Mala Emde und Anton Spieker, die beide bereits bei interessanten Produktionen mitgewirkt und für ihre Rollen auch Preise gewonnen haben, einem größeren Publikum aber dennoch weitgehend unbekannt sein dürften. Gemeinsam mit dem Regisseur haben sie ihre Rollen über einen Probenzeitraum von einem halben Jahr erarbeitet. Die Umsetzung erfolgte anschließend mit dem kleinstmöglichen Team unter tatsächlichen Reisebedingungen.

So gelingt es, gerade durch die Beschränkung auf Innenraum und Umfeld des Hymermobil (auf Basis des fiktiven wie titelgebenden Mercedes LKW 303), das Porträt eines Teils der aktuellen jungen Generation zu entwerfen, der leidenschaftlich über die Pragmatik des Bestehenden hinaus denkt. Das Private dient dabei als Folie für die größeren Zusammenhänge einer Welt, deren Umrisse mit den gefahrenen Kilometern an Schärfe gewinnen – für die Protagonisten wie für die Zuschauer.

Und das geht ganz ohne von europäischen Kunstfilmansätzen bekannte Dogmen wie den Verzicht auf Musik, Witz und kinotaugliche Bilder vonstatten. So – und durch die gewählte Reiseroute – kann Hans Weingartner gleichzeitig unterhalten, auch ältere Generationen von Biskaya- und Portugalfahrern einbinden und das real schon fast wieder utopische Bild eines freien und offenen Europas zeichnen. Auch wenn zumindest letzteres nicht intendiert gewesen sein mag, trägt es seinen nicht unerheblichen Teil zur Kraft des Werkes bei.

Der Regisseur selbst sagt, ihm sei es um einen ‚Anti-Tinder’-Film gegangen: „Statt 3 Sekunden Wisch-und-Weg die langsame Annäherung zweier Seelen.“ Aber das ist deutlich zu tief gestapelt.

303, Regie: Hans Weingartner, mit: Mala Emde, Anton Spieker u. a. (145 min), Kinostart: 19.7.2018