Zu Pablo Larraíns Oeuvre zählt unter anderem das viel gepriesene Historiendrama „No“ von 2012, in dem Gael Garcia Bernal in der Rolle des Werbers René Saavedra die erfolgreiche Kampagne gegen die Wiederwahl Pinochets verantwortet. In seiner ersten englischsprachigen Produktion „Jackie“ hat der chilenische Regisseur 2016 mit großem Staraufgebot bewiesen, dass er sich ebenso auf die psychologisch wir poetisch raffinierte Ausdeutung traumatisierter Heldinnen – hier der Witwe des gerade ermordeten JF Kennedy – versteht. Nun, zurück in Chile, setzt Larraín sein Publikum einem wilden Mix aus (alb-)traumhaft verwobenen Genreversatzstücken aus und bringt Beziehungshorror, sexuelle Entfesselung und Tanz vor der farbenprächtigen Kulisse der südamerikanischen Hafenstadt Valparaíso in einem gewagten Wurf zusammen. Ähnlichen Mixturen hatten zuletzt bereits Luca Guadagnino mit seinem opulenten „Suspiria“-Remake und Gaspar Noé mit „Climax“ (beide 2018) zumindest visuell beträchtlichen Schauwert abgewinnen können, ohne allerdings letztlich Form und Inhalt zu einer überzeugenden Einheit zu amalgieren.
Im Rausch des Reggaeton
Auch „Ema“ funktioniert vor allem wie ein Rausch; seine Geschichte erzählt der Film nicht logisch stringent, sondern arrangiert sie in expressiven Bildern und Tableaus. Wichtiger als Folgerichtigkeit ist ihm die emotional angeleitete, vom Reggaeton als der Musik der Straße befeuerte Wucht der Komposition, die Trauer und Wut, aber auch Vergebung und Neuanfang immer wieder in Tanz und ausschweifende Lust übersetzt. Zusammengehalten werden die einzelnen Momente durch die charismatische Protagonistin Ema (Mariana Di Girolamo), deren Lösung aus einem Beziehungsdrama das eigentliche Thema des Films ist.
Als junge Tänzerin mit platinblondem Haar und dem über weite Strecken leeren Blick, der Millennials immer wieder nachgesagt wird, arbeitet sie als Tanzlehrerin an einer Grundschule und tanzt in der Kompanie ihres Mannes Gastón. Bis an die Schmerzgrenze kontrolliert gespielt von Larraín-Stammschauspieler Bernal ist der ein choreographisch-künstlerisches Genie und der schöpferische Übervater seiner Truppe. Seine einzige Schwäche ist, dass er aufgrund seiner Unfruchtbarkeit nicht in der Lage ist, Ema das Kind zu zeugen, das sie sich wünscht.
Narzissmus mit Kind
Um als Paar und Familie dennoch zu funktionieren, haben die beiden von Grund auf narzisstischen Künstler daher ein Kind adoptiert: Polo, der mit acht Jahren allerdings wohl von Anfang an zu alt gewesen ist, um bei Ema originär mütterliche Gefühle zu wecken. Stattdessen heißt es nun, sie habe ihn mit selbstverliebtem Sehnen überzogen und zum Pyromanen gemacht, der ihrer Schwester das halbe Gesicht verbrannt habe. Überfordert gibt das Paar ihn erneut zur Adoption frei, und dieser Verlust verursacht den eigentlichen Schock, unter dem Ema zu Beginn der Filmhandlung steht. Denn aufgrund ihrer Entscheidung, das Kind wegzuwerfen, wie Gastón den Tatbestand ihr gegenüber bösartig zusammenfasst, gelten die beiden ihrer Umwelt nicht ganz zu Unrecht als herzlose Monstren, die „die Leute da draußen“ nach Emas Wahrnehmung immer ansehen, als hätten sie „einen Hund mit einer Plastiktüte erstickt.“
Statt sich deshalb jedoch in Selbsthass und Schmerz zurückzuziehen, tritt Ema die Flucht ins tendenziell feindlich gesinnte Außen an und startet einen Feldzug gegen alle Konventionen und Ketten. Dafür verwandelt sie sich in regelmäßigen Abständen in ein Flammenwerfer-bewehrtes Tank-Girl, das nachts die Stadt in Brand setzt, und erfindet tagsüber mit ihrer Gang eigene eruptive Tänze und Choreographien gegen die künstlerische Dominanz des feingeistigeren Gastón. Straßen, öffentliche Verkehrsmittel und Bars dienen ihr als Bühne. Nebenher verführt sie Männer und Frauen, wie sie ihr gerade in den Weg kommen, und stiftet auch in ihrer Umgebung neue amouröse Beziehung. Aller vordergründigen Richtungslosigkeit im von ihr angerichteten Chaos zum Trotz nähert sie sich dabei jedoch konsequent einem Ziel: der Heilung ihrer Schmerzen.
Nach dem Patriarchat
Das kann nur aufgehen, weil der Film ihr die Kräfte einer Superheldin zubilligt, der es erlaubt ist, gleichzeitig sentimental zu sein und glaubwürdig noch die nihilistischsten Punk-Gesten auszuführen. Mit der expressiven tänzerischen Kraft seiner Hauptdarstellerin und ihrer Crew schafft es Larraín jedoch tatsächlich, diesen Spagat zu bewältigen und eine aus filmischer Improvisation und weiblichem Begehren geborene Vision einer Gemeinschaft zu schaffen, die unübersehbar sexpositiv ist, Männer sonst aber kaum mehr nötig hat. Mit seiner Sisterhood of Reggaeton sprengt der Film traumtänzerisch die Grenzen patriarchaler Zwänge und kann es sich am Ende sogar erlauben, neben dem verlorenen Sohn auch den zwischendurch schon aufgegebenen Gatten wieder ins große befriedete Bild zu integrieren.
Ema, Regie: Pablo Larraín (102 min) mit Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal, Santiago Cabrera u. a.
Kinostart: 22.10.2020