Bei literarischen Texten ist schon immer eine häufige erste Frage, was vom darin Erzählten wahr ist – und was womöglich zum Skandal taugt. Nicht erst seit autofiktionales Schreiben mit den Lebensberichten von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Karl Ove Knausgård und den Neuauflagen der Bücher von Tove Ditlevsen ein großer Hype auf dem Buchmarkt ist, gilt Wahrhaftigkeit als herausragendes Kriterien für gelungene Literatur.
Schon nach der Poetik des Aristoteles ist das Ziel aller Künste die Mimesis, also die Nachbildung der Wirklichkeit. So haben Dichtung beziehungsweise Literatur den Auftrag zu zeigen, was in der Welt geschehen könnte – sie müssen nicht wie die Geschichtsschreibung eins zu eins darauf referenzieren, was wirklich geschehen ist. Stattdessen zeigt sich die Kunst des Erzählens gerade darin, die je bestehenden Möglichkeiten plausibel darzustellen. Das ist auch das Bestreben des realistischen Romans, der mindestens von Virginia Woolf und Marcel Proust bis zu Kurt Vonnegut oder Michel Houellebecq nur zu gern damit gespielt hat, die Lebens- und Leseerfahrungen seiner Schöpfer ganz direkt zu integrieren und Unterschiede zwischen Autor und Erzähler zu verwischen.
Autofiktionalität ist im Rahmen realistischen Schreibens eine Strategie unter anderen, um wahrhaftige Texte zu erzeugen. Ihre Autorinnen und Autoren inszenieren sich selbst als diskursive Referenzpunkte und verbürgen ein hohes Maß an Authentizität, indem sie auch durch ihre mediale Persona für das Geschriebene einstehen. Damit entsprechen sie aufs Schönste den Wünschen des Publikums unter den Bedingungen sozialer Medien. Ob Texte überzeugen und gefallen, hängt so nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, eine Gefolgschaft für sich einzunehmen. Verlierer ist, wer als narzisstischer Unsympath erscheint.
Wahrheit und Takt
Schreiben, das der französische Autor Emmanuel Carrère in seinem aktuellen Buch „Yoga“ als Sätze-Bauen bezeichnet, bedeutet im Ringen um Ausdruck immer wieder auch Entscheidungen zu treffen, was gesagt und was – über sich selbst und andere – preisgegeben werden kann. Rainald Goetz, selbst ein Autor, der das eigene Leben und Erleben als Material seines experimentierfreudigen Werks nutzt, hat das in „Abfall für Alle“ als Frage des Takts beschrieben. Hier heißt es unter anderem: „Aber vielleicht ist Respekt […] eine Art geistige Höflichkeit im Nahbereich. Eine Weise zu denken, in Freundschaften und in der Liebe, die sich allzu genaue Einsichten über den anderen vorenthält. Damit aus Verstehen und Zuneigung nicht plötzlich MITLEID wird. Takt ist ein Zartheits-Geschehen im Denken.“ Genau daran scheitert Carrère letzten Endes – auch wenn er sich mit hohem formalen Anspruch bemüht, seinen Leserinnen und Lesern direkten Einblick in die Grausamkeiten seines Schicksals und seiner Krankheitsgeschichte zu geben.
Sadismus und Grausamkeit
Mit Sadismus, Gewaltlust und Grausamkeit beschäftigt sich seit Jahren in ungewöhnlicher Tiefe Iris Därmann. Zuletzt zum Beispiel in einem interessanten Vortrag am Berliner ICI. Worum es ihr geht, ist unter anderem, Sadismus aus einer allein psychologischen Perspektive herauszulösen. Koloniale Gewaltlust gilt es demnach von allgemeiner Grausamkeit zu unterscheiden. Damit sadistische Prozesse in Gang gesetz werden können, bedarf es zunächst eines institutionell abgesicherten Rahmens. Es braucht einen Raum, der von einer Macht definiert ist, in dem sich entmenschlichende Gewalt entfalten darf und soll – und Akteure, die in diesem Raum als Folterer und Ausführende aktiv werden.
Das widerspricht zum einen jeder Lesart, die Sadismus – etwa bei Auspeitschungen von Sklaven – als individuelle Perversion verharmlost. Es gibt demnach keinen Sadimus, der einzelnen Menschen als anthropologische Konstante eingeschrieben ist. Sadismus unterscheidet sich von Grausamkeit, die durchaus auch in kindlichem Verhalten zu finden ist, wesentlich. Er bedarf zu seiner Entfaltung eines bereiteten Bodens aus Ideologie, Vorgaben und Ermutigungen.
Widerständigkeit
Zum anderen entlarvt ihr Beharren auf den (mitunter nur minimalen) Möglichkeiten von Widerständigkeit die Rede von der Shoa als industrieller Tötungsmaschinerie als entlastender Rationalisierung aus Täterperspektive. Denn auch in von einer Macht zu Todeszonen erklärten Räumen gibt es, wenn Gewalttaten begangen werden sollen, immer die Momente, in denen die konkreten Täter sich dafür entscheiden müssen, ihre Opfer zu drangsalieren, zu foltern und zu töten. In denen sie Gewalt tatsächlich und mit allen häßlichen Implikationen anwenden müssen, weil sie nie einfach geschieht.
Positiv an Därmanns Vortrag fällt auch auf, dass sie auf die via Chat gestellte Frage, wie es sich mit dem Sadismus im aktuellen Krieg in der Ukraine verhalte, keine Antwort hat. Das ist nichts, wozu sie geforscht hat, daher kann sie auch nichts relevantes dazu aus dem Stegreif sagen. Diese Art der Zurückhaltung bei der Meinungsäußerung täte auch in vielen anderen Konstellationen gut.