Theoretisch könnte alles so schön sein. Mit der Berlinale haben wir Berliner das größte Puklikumsfilmfest der Welt (wie es immer heißt) direkt vor der Haustür. Dass sich das gern politisch geriert, wird von Beobachter:in zu Beobachter:in fast naturgemäß unterschiedlich bewertet. Die einen lieben es, dass sich ein großes Kulturevent im Wettbewerb, in den Sektionen und bei den Preisvergaben der aktuellen Wahrnehmung der Welt und ihrer Problemlagen gemäß positionieren will. Andere lehnen es als unzumutbare Gängelung ab. Dass es sich bei letzteren vorwiegend um in die Jahre gekommene Cis-Männer handelt, verwundert kaum.

Was in der Praxis hingegen schon verwundert, ist, wie ungeschickt sich Festivalleitung und politisch Verantwortliche immer wieder genau dann verhalten, wenn es bei den Problemlagen, die zum Thema werden (oder eben nicht), um Israel und seine Politik geht. Selbstverständlich darf man auf das Leiden der Palästinenser immer wieder hinweisen und sich künstlerisch und in Filmen mit ihm beschäftigen. Besonders seit dem 7. Oktober 2023 jedoch sollte jedem öffentlich geäußertem „Stand with Palestine“ der Hinweis auf das durch die Hamas angerichtete Pogrom und die seitdem noch gestiegene Bedrohungen allen jüdischen Lebens folgen.

Wie nachlässig einseitig die – durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderte – 74. Ausgabe der Filmfestspiele in diesem Zusammenhang agiert hat, ist etwa hier nachzulesen. Als „vollkommen reale Schauergeschichte zum Thema Antisemitismus in Deutschland im Jahr 2024“ beschreibt die SZ etwas ausführlicher die „Skandalverleihung bei der Berlinale“. Das tut sie unter dem Titel „Die Schande von Berlin“. Wohl zu Recht.

Denn vor allem, was folgender Absatz schildert, muss beschämen: „Niemand erwähnte die beiden Berlinerinnen Carolin Bohl und Shani Nicole Louk, die vielleicht auch gerne zu den Besucherinnen des Festivals gehört hätten, wenn die Hamas sie nicht am 7. Oktober geschändet und ermordet hätte. Niemand erwähnte den Schauspieler David Cunio, der 2013 bei der Berlinale noch mit dem Film ‚Youth‘ vertreten war und seit 7. Oktober von der Hamas als Geisel gehalten wird.“ Dabei sollten ehemalige Gäste des Festivals durchaus in dessen Datenbanken gespeichert sein – und also von den dafür Zuständigen gefunden werden, wenn es darauf ankommt.*

Angesichts dessen vergeht zumindest mir die Lust, an dieser Stelle tiefer in eine Kritik der 74. Berlinale oder des Sprechens über sie einzusteigen – selbst wenn ich Sätze gelesen habe, die eigentlich kaum unkommentiert stehen bleiben dürfen. Zum Beispiel den, dass es begrüßenswert sei, dass das „Panorama“ aus seiner einst von Wieland Speck verordneten Position als „Abspielstation für LGBTQI-Fingerübungen“ in die „Cis-Normalität“ zurückgekehrt sei. Was auch immer Oliver Heilwagen in seinem Rückblick auf Kunst+Film unter einer solchen versteht: Wie kann es als lohnend erscheinen, in Verhältnisse zurückkehren zu wollen, die übersichtlicher, weil unfreier sind? Muss man über solche Vorstellungen, die ja gemeinhin eher Thema der Rechten sind, 2024 wirklich diskutieren?

Konsens immerhin herrscht dahingehend, dass die Sektion „Generation“, die dieses Jahr wieder in ihrer angestammten Spielstätte im Haus der Kulturen der Welt stattfinden konnte, weiterhin durch die Qualität ihres Programms überzeugt. Hier ließen sich immer Entdeckungen machen. Auch bei der diesjährigen Ausgabe gab es Herausragendes wie die italienisch-französische Koproduktion „Quell’estate con Irène“ von Carlo Sironi. Mit Feingefühl versteht der es, schwere Krankheits- und Verlustthemen bei Heranwachsenden in schwebend-sommerliche Bilder übersetzte, ohne sich in Ästhetizismus zu verlieren.

Eine stimmige Darstellung der wechselhaften Geschichte der Berlinale inklusive altbekannter und aktueller Kritikpunkte sowie einem Ausblick auf das, was vielleicht mit Tricia Tuttle an Neuem kommt, findet sich bei Deadline. Für den Hinweis darauf geht mein Dank an Ingrid Beerbaum.

*Nachtrag hierzu: Noch viel unerfreulicher stellt sich die Situation dar, wenn man in Betracht zieht, was die Süddeutsche am 1. März unter der Überschrift „Am Ende“ zusammengetragen hat: Dass sowohl Panorama- als auch Berlinale-Leitung nicht nur über die Lage von David Cunio – einem Mitglied ihrer eigenen Community – hätten Bescheid wissen müssen. Nein, sie sind sogar viele Male von Menschen aus seinem Umfeld darauf hingewiesen worden. Und gebeten, die Stimme zu erheben und Stellung zu beziehen. So, wie es immer Politik des Festivals gewesen ist, etwa, wenn es um Regime- und Terroropfer im Iran oder Sudan oder sonstwo auf der Welt gegangen ist. Es ist unfassbar!