Kurz vorm Start der Berlinale ein knapper Blick zurück auf die 80. Filmfestspiele von Venedig im letzten Jahr. Dort gab es im Wettbewerb neben der mitreißenden Mär von Bella Baxter in Giorgos Lanthimos‘ Siegerfilm „Poor Things“ eine ganze Reihe starker Konkurrenten um den Goldenen Löwen. Von „Evil Does Not Exist“ von Ryūsuke Hamaguchi wird hier sicherlich noch die Rede sein, ebenso von den Flucht-Dramen „Io Capitano“ von Matteo Garrone und Agnieszka Hollands „Green Border“.

An dieser Stelle soll es jedoch zunächst um Pablo Larraín gehen, der nach „No!“ einen weiteren ungewöhnlichen Beitrag zur Aufarbeitung der faschistischen Diktatur in Chile beigesteuert hat. Dieses Mal in Form einer Horror-Satire mit dem Titel „El Conde“. Darin schildert er Augusto Pinochet als Vampir (gespielt von Jaime Vadell), der schon seit der Französischen Revolution auf Kosten der Armen und Ausgebeuteten sein Unwesen treibt und für den Chile nur eine Station auf einem langen mörderischen Raubzug durch die Welt ist.

Jaime Vadell als Pinochet und Gloria Münchmeyer als seine Frau Lucia in „El Conde“. Bild: (c) Pablo Larrain/Netflix 2023

Blutsauger, Mörder und Schmarotzer

Als Untoter foltert, mordet und stiehlt er bei Larraín nicht nur, sondern nimmt auch die Herzen seiner Untertanen als im Küchenmixer bereitete Smoothies zu sich; aus seiner weltweiten Erfahrung lässt der Film ihn Bestenlisten des Blutgeschmacks erstellen, bei der Engländer (und selbstverständlich vor allem: Engländerinnen) am besten abschneiden. In ihrem Blut mischt sich demnach der Geschmack des Römischen Reiches mit Wikingeranteilen im Abgang, die für eine exzellent-bittere Note sorgen.

Dennoch hat Pinochet zu Beginn des Films von alldem genug und beschließt zu sterben. Unter anderem, weil er das Ausbleiben einer allgemeiner Anerkennung seiner Lebensleistungen vermisst. Diesen Plan weiß jedoch sein Diener Fyodor (Alfredo Castro) zu durchkreuzen. Im Gewand seines Herrn fliegt er durch die Gegend und richtet grausame Gemetzel an, wodurch er die Familie des Diktators auf den Plan ruft: eine Bande arbeitsunwilliger und unfähiger Schnorrer. Die finden sich bald bei ihrem Vater ein, um ihren Teil der angehäuften, aber gut versteckten Reichtümer zu sichern. Außerdem heuern sie eine Nonne (Paula Luchsinger) an, die als Buchhalterin getarnt einen Exorzismus am Patriarchen vollziehen soll. Doch die junge Frau wirkt auf den Vampir und seinen Lebenswillen ganz anders als intendiert.

Paula Luchsinger als Carmen. Bild: (c) Pablo Larrain/Netflix 2023

Höhenflüge und Visionen

Zwischen Politsatire und deftigen Horrorbildern schaffen Larrain und sein Kameramann Edward Lachmann in betörenden Schwarzweißbildern eine Welt, die in ihrer opulenten Ausstattung und mit weiten in Lethargie liegenden Landschaften an Alejandro G. Iñárritus Mexiko in „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ erinnert. Die Optik ist etwas weniger extrem, dafür werden die gelegentlichen Höhenflüge der Protagonisten fast noch schöner ausgekostet.

Ebenso ausschweifend wie Iñárritu erzählt Larraín seine südamerikanische Schreckensgeschicht der letzten fünfzig Jahre. Zwar wird nicht jedes popkulturelle Detail wirklich schlüssig integriert und hier und da bleibt ein erzählerisches Ende offen oder im Ungefähren. Doch gerade zum Finale hin findet Larrain in einer hübschen (und von Anfang an geschickt vorbereiteten) Idee, den Anschluss an eine allgemeine Kritik neoliberal blutsaugender Zustände.

In seinem Bemühen, die verdrängten Schrecken der Geschichte ans Licht zu holen, zielt „El Conde“ so allemal wirkungsvoll aufs kollektive Unterbewusste – und tut somit genau das, was ein guter Horrofilm schon immer tun soll.

El Conde, Regie: Pablo Larrain (110 min) mit: Jaime Vadell, Gloria Münchmeyer, Paula Luchsinger u. a. Auf Netflix